Kultur
Das Staatstheater Kassel eröffnet mit “Waisen“ die neue Spielzeit
“Macht uns das nicht zu Mittätern?“
(Quelle: N. Klinger)
GDN -
Mit dem Stück “Waisen“ von Dennis Kelly feiert das Staatstheater Kassel die erste Premiere der neuen Spielzeit. Das beklemmende Kammerspiel überzeugt darstellerisch ebenso wie inszenatorisch und erntet starken Applaus vom Premierenpublikum, das einen überaus lohnenden Theaterabend erlebt.
Die Flammen auf den mehrarmigen Kerzenleuchtern flackern, als sich Danny und Helen in den Armen liegen und innig küssen. In diese romantische Situation platz Helens Bruder Liam, der mit blutigem T-Shirt in der Wohnungstür steht. Auch wenn es nicht sein eigenes Blut ist und er, laut eigenem Bekunden, lediglich einem überfallenen Jungen geholfen habe, ist die zauberhafte Stimmung unwiederbringlich zerstört.
Der Zuschauer ahnt bereits, dass mit dem Auftauchen von Liam etwas Unheilvolles in die heile Welt des Paares eingedrungen ist. Eine Ahnung, die durch die verwendete Musik (Dirk Raulf) vom ersten Moment an wirkungsvoll unterstützt wird. Wie in einem Film von Roman Polanski beginnt sich aus einer idyllischen, unschuldigen Alltagsszene langsam, unterschwellig aber unaufhaltsam etwas Grauenhaftes zu entfalten.
Angesichts der Tatsache, dass sich draußen ein verletzter, hilfsbedürftiger Mensch aufhält, beabsichtigt Danny die Polizei zu rufen. Doch Helen hindert ihn an dem Vorhaben, da Liam vorbestraft ist und es daher ratsam sei keinerlei polizeiliche Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Danny lässt sich auf die Argumentation ein und begibt sich in ein verhängnisvolles Geflecht aus Halbwahrheiten, Lügen, angestauten Aggressionen, unterdrückten Sehnsüchten, Ängsten und menschlichen Abgründen. Im weiteren Verlauf der Handlung lernt sich das Ehepaar von ganz neuen Seiten kennen und entfernt sich dabei zusehends voneinander. Unerbittlich werden die drei Figuren von immer komplexer werdenden Fragen in Richtung Abgrund getrieben.
In “Waisen“ geht es um Gewalt und Loyalität. Helen möchte ihren einzigen Bruder, für den sie sich, spätestens seitdem ihre Eltern starben, verantwortlich fühlt, beschützen. Er steht ihr weitaus näher als ein Fremder draußen, der womöglich sogar eine gewisse Mitschuld an seinem erlittenen Schicksal trägt. Wem gegenüber wir uns zur Loyalität verpflichtet fühlen, ist eine der zentralen Fragen, die das Stück aufwirft. “Es läuft darauf hinaus wen wir kennen und wen nicht“¦“, resümiert Danny verunsichert.
Danny wiederum verhält sich loyal zu Helen, seiner Frau, die er liebt, mit der er ein gemeinsames Kind hat, ein weiteres Kind erwartet und mit der er seine Zukunft gestalten möchte. Zwar lebt die junge Familie in einer fragwürdigen, unsicheren Umgebung, aber die S-Bahn-Anbindung sei gut und sogar ein Café soll demnächst eröffnen, weiß der Familienvater sich selbst zu beruhigen. Die reale Gewalt, die vor seiner Haustür herrscht, blendet Danny aus “¦ bis sie in seine eigene Wohnung dringt.
Der Autor Dennis Kelly verlagert die Gewalt, die uns umgibt, die wir aber nicht immer wahrnehmen wollen, in die überschaubare Gemeinschaft einer Familie und zeigt uns, dass spätestens wenn die wohlige Gemütlichkeit, mit der man sich eingerichtet hat, erschüttert wird, auch Haltung und Moral ins Wanken geraten. Dennis Kelly führt uns vor Augen “wie leicht unsere moralischen Grundwerte korrumpiert werden.“ (The Guardian). Man erinnere sich nur daran, dass vor wenigen Jahren angesichts einer grausamen Kindstötung, eine gesellschaftliche Errungenschaft, wie die Überwindung und Ächtung von Folter, von breiten Teilen der Bevölkerung offen infrage gestellt wurde.
Die drei mitwirkenden Schauspieler steigern sich im Verlaufe des Abends und überzeugen mit einer eindrucksvollen Leistung. Insbesondere wenn sie ihre Sätze pfeilschnell über die Zuschauerköpfe hinwegsausen lassen, harmoniert das Trio ausgesprochen gut miteinander.
Thomas Sprekelsen verkörpert Danny, einen Verfechter von Recht und Gesetz, der sich notfalls beleidigen und verprügeln lässt, statt seine moralischen Überzeugungen aufzugeben. Auch wenn es im Verlaufe des Stückes schwerfällt ihm manche Wendung zu glauben, gelingt es Thomas Sprekelsen, vor allem mit seiner nuancierten Körpersprache, das innere Ankämpfen seiner Figur gegen die Aufgabe seiner Prinzipien für den Zuschauer erlebbar zu machen.
Artur Spannagel gibt als Liam seinen Einstand als Ensemblemitglied in Kassel und präsentiert sich mit einer beachtlichen Bühnenpräsenz. Er verleiht seiner Figur etwas Authentisches, Verletzliches, Gekränktes und Schutzloses, was seine Wut, seinen verdrängten Hass und seine aggressiven Ausbrüche umso wirkungsvoller erscheinen lässt.
Alina Rank spielt die über weite Strecken eiskalt handelnde und denkende Opportunistin Helen, die ihren Bruder um jeden Preis schützen will. Großartig wie es ihr alleine durch Blicke gelingt, die enge Verbindung zwischen sich und Liam spürbar zu machen.
Helen und Liam kennen Gewalt als realen Bestandteil ihres Lebens. Spätestens seit dem Tod der Eltern sind sie es gewohnt sich zu zweit zu behaupten, um Selbstbestimmung zu erlangen. Auf Hilfe von außen warten sie schon lange nicht mehr. Es gibt keinen Staat, keine Institution und kein Gesetz, dem sie Vertrauen schenken können. Sie sind die titelgebenden “Waisen“. Sie sind Verlassene.
Martin Schulze, der das Stück für das Staatstheater Kassel inszeniert hat, ist dem dortigen Publikum durch einige großartigen Arbeiten, so führte er beispielsweise Regie bei den eindrucksvollen Produktionen “Unschuld“ (2009) und “Das letzte Feuer“ (2011), bekannt. Daniel Roskamp hat für “Waisen“ ein konsequentes, karges Bühnenbild erschaffen. Da kaum Requisiten, die dem Ort des Geschehens etwas individuelles verleihen würden, auftauchen, könnte die Handlung überall stattfinden - in jedem Land, in jeder Stadt. Im Zentrum des Geschehens liegt von der ersten Minute an ein schwer verletzter Mann auf einem Podest. Ein starkes Bild, denn die Gewalt kommt nicht von außerhalb, nicht vom Rand der Gesellschaft, sondern sie kommt aus deren Mitte.
Die Protagonisten umkreisen das Opfer und damit das Thema “Gewalt“. Sie nähern sich einander an und entfernen sich voneinander. Sie stehen sich konfrontativ gegenüber oder gemeinsam auf der gleichen Seite. In jedem Fall überlassen sie das Opfer seinem Schicksal, “weil er keiner von uns ist“ und rücken dabei ganz nah an das Publikum heran. Die Kluft zwischen Zuschauern, deren Sitze um das Geschehen herum angeordnet sind, und Schauspielern verschwindet, wodurch das Publikum dem unheilvollen Geschehen unmittelbarer als üblich ausgesetzt ist.
Diese eher kreisförmige Sitzordnung führt zudem dazu, dass sich die Zuschauer gegenseitig beobachten können. Wie gelähmt sitzen sie auf den Bänken, verfolgen das Geschehen mit wachsendem Schrecken und fühlen sich doch nicht in der Lage einzugreifen. Der Preis für diese Regieidee ist jedoch, dass - je nach Sitzplatz - für manchen Zuschauer einzelne Schauspieler nicht immer zu sehen sind oder Nuancen im Spiel, wie Blickkontakte, stets nur von einem Teil des Publikums überhaupt wahrgenommen werden können.
Nach etwas mehr als eineinhalb Stunden erwachen die Zuschauer förmlich aus der Schockstarre und gehen mit vielen offenen Fragen nach Hause. Warum wenden Menschen Gewalt an, ohne das diese in der speziellen Situation biologisch erforderlich erscheint? Können wir uns aktiv entscheiden auf Gewalt zu verzichten? Gibt es eine natürliche Hemmung Gewalt anzuwenden? Ist Gewaltverzicht lediglich anerzogen und leicht zu erschüttern? Unter welchen Umständen werfen wir unsere Grundsätze über Bord?
“Was machen wir nun“¦?“, fragt Danny (Thomas Sprekelsen) das Publikum und erntet Schulterzucken und ratlose Blicke. “Waisen“ verunsichert und das macht das Stück zu einem überaus lohnenswerten Theaterabend.
Karten für weitere Vorstellungen sind an der Kasse des Staatstheaters Kassel (Tel.: 0561/1094-222) oder online unter www.staatstheater-kassel.de erhältlich.
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