Kultur

“Ministerium der Träume” (Hengameh Yaghoobifarah) am Staatstheater Kassel

„Let's exchange the experience“


(Quelle: Isabel Machado Rios)
(Quelle: Isabel Machado Rios)
GDN - Am vergangenen Samstag feierte „Ministerium der Träume“ nach dem gleichnamigen Roman von Hengameh Yaghoobifarah am Kasseler Staatstheater Premiere. Das von Laura N. Junghanns temporeich und kraftvoll inszenierte Stück wurde von einem überwiegend jungen Publikum gefeiert.
"It doesn't hurt me. Do you wanna feel how it feels?”, sang Kate Bush 1985 in ihrem Song “Running up that hill (A Deal with God)“, in dem sie sich mit den grundlegenden Unterschieden zwischen den Geschlechtern auseinandersetzte und zu dem Schluss kam, ein echtes Verständnis sei ausschließlich mittels eines vorübergehenden Rollentausches erreichbar.
Die iranischstämmige Türsteherin Nasrin ist in den 1980er-Jahren, als der Song entstanden ist, mit ihrer Mutter und Schwester aus Teheran, wo ihr Vater hingerichtet wurde, geflohen und nicht nur in einer fremden, sondern gar in einer feindseligen Umgebung angekommen.
Zwischen dem 17. und 23. September 1991 ereigneten sich im sächsischen Hoyerswerda rassistische Ausschreitungen, die wie der Auftakt zu einer Serie ausländerfeindlicher Anschläge in Deutschland erscheinen.

An den Gewalttätigkeiten zwischen dem 22. und 26. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen beteiligten sich mehrere Hundert rechtsextreme Randalierer:innen, die von bis zu 3000 Zuschauer:innen, die den Einsatz von Polizei und Feuerwehr aktiv behinderten, Applaus erhielten. Im Verlaufe der Auseinandersetzungen zog sich die Polizei vorübergehend zurück und überließ die im brennenden Gebäude Eingeschlossenen ungeschützt sich selbst.
Der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters mahnte auf einer Pressekonferenz am 24. August 1992, der Staat müsse nun aktiv werden und dachte dabei nicht etwa an die Bekämpfung der Gewaltexzesse und den Schutz der bedrohten Menschen. Stattdessen forderte er: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“
Am 23. November 1992 starben in Mölln bei einem von zwei Neonazis verübten Brandanschlag zwei türkische Kinder und deren Großmutter und in Solingen fielen am frühen Morgen des 29. Mai 1993 fünf Frauen und Mädchen einem rassistischen Angriff zum Opfer.
Nach diesen und weiteren erlittenen Erschütterungen, erlebten Anfeindungen und erduldeten Erniedrigungen steht eines Tages die Polizei vor Nasrins Tür, um sie über den Tod ihrer Schwester Nushin zu informieren, was ihre ohnehin fragile Welt erneut ins Wanken bringt. Von nun an muss sie als Tante einer Heranwachsenden eine neue Rolle ausfüllen, sich als queere Person behaupten, die traumatische Vergangenheit verarbeiten sowie ihre Wut und Trauer bewältigen.
“You don't wanna hurt me - but see how deep the bullet lies.
Unaware I'm tearin' you asunder - Oh, there is thunder in our hearts.”
Selbst die anfängliche Aussage, ihre Schwester sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen, gerät ins Wanken. Könnte es auch Suizid gewesen sein… oder gar Mord? Nasrin taucht in ihre Vergangenheit ein und je mehr sie über sich und die Familiengeschichte erfährt, desto offenkundiger werden die Unstimmigkeiten und Widersprüche bezüglich der Todesumstände, dem Land, in dem sie lebt und den Gewissheiten, die sie zu haben glaubte.
Das Stück „Ministerium der Träume“ beruht auf dem viel gepriesenen Romandebüt der deutsch-iranischen nichtbinären Autor:in Hengameh Yaghoobifarah, in dem migrantisches Leben in Deutschland und die damit verbundenen Zuschreibungsprozesse und Identitätskonflikte offengelegt werden.
Die 1991 geborenen Regisseurin Laura N. Junghanns hat den Text für das Staatstheater Kassel, dessen Publikum sie durch die feministische Talk-Reihe "Butler Butch Beyoncé" sowie die Sightseeing-Tour "Your very own double crisis Club" bekannt ist, adaptiert und inszeniert.

Quelle: Isabel Machado Rios
Die Herausforderung, auf der Bühne kompliziert darzustellende Handlungen wie Sexualität, Gewalt sowie sexuelle Gewalt zu zeigen, gelingt mit der erforderlichen Sensibilität ausgezeichnet und auch die ansprechende, Wärme ausstrahlende Bühne von Jule Saworski, die das Publikum sowohl in den Orient entführt als auch bei genauerer Betrachtung auf zentrale Themen und Anliegen des Stückes verweist, überzeugt.
Die Inszenierung leidet mitunter an der Überfülle von Themen wie Flucht und Migration, rechtsradikale Bedrohungen, familiäres Miteinander in wechselnden Rollenkonstellationen, queerem Leben, Auseinandersetzung mit Zuschreibungsprozessen, Bewältigung von Traumata, Trauer, Erwachsenwerden, sexuelle Selbstbestimmung sowie der Aufarbeitung eines Kriminalfalls. Das sind reichlich Themen für einen Theaterabend. Hier wäre etwas mehr Fokussierung wünschenswert gewesen, auch um Zeit und Raum für leisere Töne zu gewinnen.
Die Hauptcharaktere der Geschichte ringen einerseits mit ihren jeweiligen individuellen Ängsten, befinden sich andererseits aber gemeinsam in einer schwierigen Lage, sind emotional stark und letztlich untrennbar miteinander verwoben, was auch die Kostüme (ebenfalls Jule Saworski) widerspiegeln und werden vom vierköpfigen Kasseler Ensemble überzeugend verkörpert.
Katharina Brehl
Quelle: Isabel Machado Rios
Katharina Brehl stürzt sich bravourös in die Rolle der Protagonistin Nasrin - eine Figur, die gleichermaßen Wut und Trauer durchlebt und Aggression als Überlebenstechnik entwickelt hat. Sie kämpft gegen ihre Traumata, muss sich mit dem Tod ihrer Schwester sowie ihres Vaters auseinandersetzen und wird, noch während sie die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter auslotet, selbst in eine Mutterrolle gedrängt, als sie die Fürsorge für ihre Nichte Parvin, die wenig Verlangen zeigt, befürsorgt zu werden, übernimmt.
Diese und weitere anspruchsvolle, durch Traumata zugleich einsame wie auch miteinander verbundene Rollen verkörpert Marcel Jacqueline Gisdol ausdrucksstark.
Zazie Cayla, ab der kommenden Spielzeit festes Mitglied des Kasseler Ensembles, spielt unter anderem Filiz, die als Jugendfreundin zurück in Nasrins Leben tritt und bruchstückhafte Erklärungen mitbringt, die sie selbst, Nasrin sowie die Zuschauer:innen im Verlaufe des Stückes versuchen zusammenzufügen.
Jakob Benkhofer verleiht als Familienoberhaupt der emotional verschlossenen Mutter die ihr angemessene Würde und besticht ebenfalls in weiteren Rollen.
Marcel Jacqueline Gisdol
Quelle: Isabel Machado Rios
Zazie Cayla
Quelle: Isabel Machado Rios
Jakob Benkhofer
Quelle: Isabel Machado Rios
Sie alle erlitten und erleiden aufgrund ihrer - im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft - Andersartigkeit Ungerechtigkeiten, die sie auf ihrem Lebensweg schmerzvoll verfolgen und die in der kraftvollen und mitunter überdrehten Inszenierung offenbart werden, worin der maßgebliche Verdienst des Stücks liegt. Abgründe werden spürbar und manche Wirklichkeiten, die in unserer Gesellschaft alltäglich sind, aber für viele unsichtbar bleiben, werden aufgedeckt. Wenn schon der konsequente Rollentausch nicht möglich ist, so können wir zumindest einander zuhören und voneinander lernen, ohne zu urteilen. Zum Abschluss des Abends ist Kate Bushs Stimme aus den Lautsprechern zu hören: „Let me steal this moment from you now - Let's exchange the experience.“
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