Kultur
“Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen“
Pina Bausch-Rekonstruktion in Wuppertal
(Quelle: ©TANZweb.org / Klaus Dilger)
GDN -
Rund 40 Jahre nach der Uraufführung ist derzeit am Wuppertaler Opernhaus erneut das Stück “Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen“ von Pina Bausch zu sehen. Die Reaktionen des Publikums zeigen, dass die Faszination, die Bauschs Werk auslöst, ungebrochen ist.
Zu Beginn des Abends liegen die Darsteller schlafend auf diversen Möbelstücken und dem Bühnenboden. Quälend lange geschieht recht wenig. Die Akteure nehmen wechselnde, albtraumgeplagte Schlafpositionen ein und es wird rasch offensichtlich, dass hier kein schnell und bequem konsumierbarer Kunstgenuss geboten wird, sondern das Publikum eingeladen ist, genau hinzuschauen und Nuancen wahrzunehmen. Es sei ein Herzenswunsch gewesen, die selten gespielte "Macbeth"-Adaption, deren Titel ähnlich lang und rätselhaft ist wie der gesamte Abend, auf die Bühne zu bringen, heißt es aus dem Tanztheater Wuppertal.
Die Tänzerin und Choreografin Pina Bausch (1940 - 2009) entwickelte in den 1970er-Jahren das Tanztheater und galt in der Fachwelt als die bedeutendste Choreografin ihrer Zeit. Sie verband erstmals den Tanz mit anderen Genres wie Gesang, Pantomime, Artistik und Schauspiel, löste die herkömmliche Handlungsstruktur in collageartig verbundene Einzelszenen auf und entwickelte somit eine neue Kunstgattung.
Als der damalige Intendant der Wuppertaler Bühnen 1973 Pina Bausch die Leitung der Ballettsparte antrug, ahnte wohl noch niemand, welch umwälzende Neuerung dieser Schritt dem Haus bescheren würde. Schon bald benannte Pina das “Wuppertaler Ballett“ in “Tanztheater“ um und was dem kulturell interessierten Wuppertaler Publikum in den nächsten Jahren geboten wurde, hatte in der Tat zunehmend weniger mit Ballett im klassischen Sinne zu tun. Pina Bausch holte das Leben, das Irdische auf die Bühne, ließ ihre Tänzer*innen in Erde treten, auf Dreck stampfen oder im Wasser tanzen.
Das Publikum reagierte zunächst ebenso verstört wie die meisten Kritiker. Im Zuschauerraum kam es zu tumultartigen Szenen - so auch bei der Uraufführung von “Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen“ 1978 im Schauspielhaus Bochum. Jo-An Endicott, eine der Tänzerinnen, die damals auf der Bühne standen, erinnert sich: “Das Publikum hat getobt und gebuht. Es war unmöglich, weiterzuspielen.“ Sie nahm an jenem Abend ihren Mut zusammen, stand auf und rief ins Publikum: “Wenn ihr kein Interesse habt, geht doch nach Hause und guckt Fernsehen, aber lasst uns in Ruhe arbeiten.“
Trotz all der Anfeindungen, denen sie sich ausgesetzt sah, beharrte Pina auf dem von ihr eingeschlagenen Weg und gelangte nicht zuletzt durch ihren Mut zum Risiko, aber auch durch die durchgängig hohe künstlerische Qualität, zu Weltruhm. Das Tanztheater entwickelte sich in den folgenden Jahren zu dem erfolgreichsten deutschen “Kulturexportartikel“ und Pina Bausch wurde mit nationalen, wie internationalen Preisen geradezu überhäuft.
Vor 41 Jahren entstand das nun rekonstruierte Stück in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum, dessen damaliger Intendant Peter Zadek Pina Bausch einlud, ihre Version von "Macbeth" zu entwickeln. Dem Theatermacher wird bewusst gewesen sein, dass er von der Choreografin keine weitere althergebrachte Variation des Shakespeare-Klassikers zu erwarten hatte. Gemeinsam mit ihrem Ensemble, wobei jeder Darsteller seine Persönlichkeit in den Prozess einbringen durfte, kreierte sie ein Stück um Macht, Schuld, Moral, Mord und Selbsttäuschung - ähnlich wie Shakespeare vier Jahrhunderte zuvor.
Der kryptische Titel ist einer Regieanweisung Shakespeares entliehen, verwandelt sich allein durch diesen Kunstgriff in Poesie und deutet bereits an, dass die Vorlage recht frei interpretiert wird. Wie sehr das Stück damals das Publikum verstört hat, ist durchaus nachvollziehbar, denn wer einen klassischen Shakespeare erwartet, wird ebenso enttäuscht, wie jemand der auf ästhetische Tanzeinlagen hofft. Der zunächst friedliche Schlaf der Darsteller steigert sich zu einem Albtraum. Sie rennen chaotisch durch den Bühnenraum, verlangsamen ihre Bewegungen bis zum Stillstand, wiederholen Handlungen und Aussprüche, waschen sich zwanghaft von Schuld frei, streiten sich infantil um Spielzeug, singen Kinderlieder und werfen Sprachfetzen in den Raum.
So entsteht ein surrealer, zwischen Komik und Tragik pendelnder Bilderreigen. Lediglich Johanna Wokalek, die Mechthild Grossmann aus der Uraufführung ersetzt und sich dank ihrer Bühnenpräsenz sowie ihrer angenehmen und ausdrucksstarken Erzählstimme als hervorragende Wahl erweist, erzählt abschnittweise den bekannten Inhalt vom Königsmord, Verrat, Wahnsinn und Schuld.
Jo-An Endicott hat die Proben zur Wiederaufnahme des 41 Jahre alten Stücks, das anhand von existierenden Videoaufnahmen rekonstruiert wurde, geleitet und - um die Aura der verstorbenen Choreografin einzufangen und lebendig zu halten - diese in die Lichtburg, ein altes Kinogebäude, verlegt, in dem das ursprüngliche Ensemble in den 1970er Jahren ebenfalls seine Stücke erarbeitet hat.
Der Filmregisseur Wim Wenders äußerte einmal “bei Bausch finde zusammen, was im englischen Sprachraum zwei Worte brauche: motion und emotion, Bewegung und Gefühl“. Dank der neuen Sprache, die Pina Bausch geschaffen hat, lässt sich im Tanztheater etwas erleben, was unsere Unterhaltungsindustrie mehr und mehr zu zerstören scheint, nämlich etwas Echtes.
Pina Bausch hat einst geschildert, dass sie sich für die kleinen Dinge interessiert, die sich zwischen Menschen ereignen oder wie es in einem häufig zitierten Ausspruch heißt: “Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern, was sie bewegt.“
Wenn das Publikum, wie in diesen Tagen, auf das neu einstudierte Stück mit anhaltendem Applaus und Standing Ovations reagiert, ist dies sicherlich als Respektsbekundung vor dem großartigen Ensemble aber auch vor Pina Bausch zu verstehen.
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