Kultur
Tanztheaterabend “Marianengraben“ feiert Premiere am Staatstheater Kassel
“Wir sinken. Wir alle sinken.“
(Quelle: N.Klinger)
“Wir sinken“¦ wir alle sinken“, verkündet die Tänzerin Zoe Gyssler, während des Stückes “Marianengraben“, das am vergangenen Samstag Premiere im fast ausverkauften Schauspielhaus des Staatstheaters Kassel feierte. Bei dem titelgebenden etwa 11.000 Meter tiefen Marianengraben handelt es sich um eine Tiefseerinne im Pazifischen Ozean, den tiefsten Abschnitt des Weltmeeres. Tiefer als zu jenem Ort kann niemand sinken. Kein Sonnenlicht dringt in diese Region, das menschliche Auge nimmt lediglich Dunkelheit wahr und unser Organismus wäre aufgrund des Wasserdrucks sowie der herrschenden Temperaturen nicht überlebensfähig.
Selbst der 384.400 km von der Erde entfernte Mond scheint umfangreicher erforscht zu sein, als diese nahezu unzugängliche Region unseres eigenen Planeten. Lange herrschte die Annahme, unter diesen extremen Bedingungen sei kein Leben möglich. Doch auch wenn es uns über Jahrhunderte verborgen geblieben ist - dort unten existieren äußerst vielfältige Lebensformen.
Am tiefsten Abgrund der Erde wurden in den vergangenen Jahren bislang unbekannte Lebensformen, neue Ökosysteme sowie beträchtliche Rohstoffvorkommen entdeckt. Zahlreiche der zum Teil erschreckenden, geisterhaften und irreal wirkenden Kreaturen haben sich in ihrer Evolutionsgeschichte derart an ihre Umgebung angepasst, dass sie ausschließlich im Marianengraben, der zweifellos noch viele Geheimnisse verwahrt, vorkommen.
Begleitet von anemonenhaften Bewegungen sinken die Tänzerinnen und Tänzer hinab in die Tiefe und treffen dabei zuweilen auf Wesen, die ähnlich erschreckend und zombiehaft wirken, wie manche Meeresbewohner der Tiefsee. Johannes Wieland, Tanzdirektor am Staatstheater Kassel, interessiert sich für das Verborgene, für das, was tief in uns, unter einer Schicht aus Verdrängung, Regression und Verleugnung, aufzuspüren ist.
Was ist dort, wo wir nicht hinschauen können oder wollen, zu entdecken? Welche Abgründe erkennen wir in uns selbst? Welche Ängste beeinflussen unser Denken und Handeln? Wie werden diese Ängste geschürt und können Sex, Drogen und Gewalt als Pflaster gegen die Angst dienen? Damit beleuchtet Wieland ein Thema, das insbesondere in einer Zeit bedeutend ist, in der zunehmend Angst mit all ihren Schattierungen die gesellschaftlichen Diskussionen zu bestimmen scheint.
Der im vergangenen Jahr verstorbene Historiker Fritz Stern sprach kurz vor seinem Tod von einem “neuen Zeitalter der Angst“ und fürchtete, dass dieses “neue autoritäre Systeme“ entstehen lassen könne. Die reine Existenz der Angst sei durchaus nachvollziehbar, jedoch sei die entscheidende Frage, wer diese Ängste, und zu welchem Zweck, mobilisiere.
In Abwandlung des bekannten Ausspruchs von Franklin Roosevelt (“Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Angst“), könnte derzeit treffender formuliert werden: Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist der Umgang mit der Angst.
In Abwandlung des bekannten Ausspruchs von Franklin Roosevelt (“Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Angst“), könnte derzeit treffender formuliert werden: Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist der Umgang mit der Angst.
Vor dem Hintergrund zahlreicher bestehender Probleme und Herausforderungen, wie der rasant auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich, zunehmend unsicheren Lebensplanungen und persönlichen Perspektiven, drängenden ökologischen Fragestellungen und weltweiten politischen Krisenherden, scheint sich derzeit die Position, eine Abschottung vor allem Fremden und Neuen werde uns unserer Probleme entledigen, am mühelosesten Gehör zu verschaffen und zugleich unterschiedlichste Strömungen miteinander zu vereinen.
Woran es gegenwärtig mangelt, sind positive Vorstellungen von Zukunft. Der mantrahaft wiederholte Ausspruch man müsse Ängste ernst nehmen, bleibt allzu oft eine hohle Phrase, denn Ängste ernst nehmen würde bedeuten, den Ängsten auf den Grund zu gehen und daraus eine zukunftsorientierte Perspektive zu entwickeln. Der nicht zuletzt von der eigenen Partei ausgebootete Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders hat für seinen Wahlkampf den Slogan “A Future to believe in“ gefunden und damit vor allem junge und vom Neoliberalismus enttäuschte US-Amerikaner begeistern können.
Doch letztlich hatten die verunsicherten US-amerikanischen Urnengänger die Wahl zwischen dem polternden Egomanen Donald Trump, der für Probleme einfache Lösungen bietet oder diese schlicht als nicht existent erklärt und der berechnend wirkenden Hillary Clinton, deren erster Wahlkampfslogan "Hillary For America" im wesentlichen ihre persönlichen Ansprüche verkündete und deren weitere Parole “Fighting for us“, nicht zuletzt angesichts ihres von der Finanzbranche finanzierten Wahlkampfes, bei vielen Wählern Zweifel aufkommen ließ, ob sie selbst überhaupt mit dem “us“ gemeint seien.
Versinken wir, gefangen in unseren Ängsten, in den Abgrund oder ist ein Neustart, wie er, begleitet von blendendem Scheinwerferlicht, mehrfach auf der Bühne erprobt wird, möglich? Die Zuschauer erleben eine nach außen zuweilen fröhlich wirkende Untergangsgesellschaft. So eröffnet das Stück mit einer herzhaft lachenden Cree Barnett Williams in glitzernder Abendrobe, nachdem bereits beim Betreten des Saales das Bühnenbild, ein Sonnenuntergang hinter Palmen im Breitwandformat, das Paradies versprochen hat. Doch die Sonne wird weiter sinken, bald am Horizont verschwunden sein und allzu schnell tun sich auf der Bühne erste Widersprüche auf.
Den Tänzerinnen und Tänzern sind in dieser Produktion klare Charaktere zugeordnet. Die Zuschauer erleben neun Individuen, die inhaltlich durch ihre Ängste miteinander verbunden sind und von Choreograf Johannes Wieland kunstvoll zu einer Gruppe verwoben werden. Auf einer kargen Bühne (Bühne: Matthieu Götz), auf der lediglich ein Mikrofon und eine Tanzstange Platz finden, bewegen sich die Protagonisten zu rhythmisch geprägter Musik, in einer Umgebung, die Assoziationen mit einem verruchten Nachtclub wecken mag und durchleben eine Achterbahnfahrt der Gefühle.
Wie gewohnt liefern Johannes Wieland und das Tanzensemble keine konkreten Antworten, sondern werfen vielmehr Fragen auf, deren Beantwortungen den Zuschauern überlassen bleiben. Was auf der Bühne zu sehen ist, ist nicht eben leichte Kost und spricht, wie im Anschluss an die insgesamt jedoch viel beklatschte Premiere unverkennbar war, nicht jeden Zuschauer an. Auch stießen die zum Teil sehr direkten sexuellen Darstellungen auf Kritik und manche Besucher vermissten ästhetisch-tänzerische Aspekte, die bei dieser Produktion in der Tat etwas in den Hintergrund geraten. Doch wer tief vordringt, um das Verborgene aufzuspüren, trifft dabei wohl unweigerlich auf Abgründe.
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