Kultur
Doppel-Tanzabend “Erzengel“ am Staatstheater Kassel
Die Tänzerin Zoe Gyssler im Gespräch
(Quelle: N.Klinger)
GDN -
Zwei gänzlich unterschiedliche Choreografien sind derzeit im Rahmen des Tanz-Doppelabends “Erzengel“ am Staatstheater Kassel zu erleben. Zoe Gyssler, Tänzerin des Kasseler Ensembles, stand German Daily News für ein Gespräch über die aktuelle Produktion zur Verfügung.
After Lethe: “Maxine hat eine Überflut von Bildern in ihrem Kopf.“
Das Rauschen eines Flusses dringt an das Ohr und in der Dunkelheit ist eine grazile Frau erkennbar, die sich, dem Publikum den Rücken zuwendend, langsam aus einem Waschzuber erhebt. Die aufkommenden Empfindungen ähneln jenem Gefühl, das kurz nach dem sanften Erwachen an einem unbekannten Ort auftritt, wenn sich, während das Bewusstsein noch vergeblich dem zunehmend verblassenden und unwiederbringbar zerrinnenden Traum nachhängt, die Augen bereits nach Orientierung suchend durch die herrschende Dunkelheit tasten, allmählich schemenhaft Einzelheiten der Umgebung erkennen und diese sukzessiv zu einem Gesamtbild zusammenfügen. An welchen Ort hat uns unser Traum geführt?
So beginnt der erste Teil des Tanz-Doppelabends “Erzengel“ am Staatstheater Kassel, bei dem die Zuschauer, mit den Arbeiten der beiden Choreografen Maxine Doyle und Johannes Wieland, zwei Stücke erleben können, die gänzlich unterschiedliche Handschriften tragen.
“After Lethe“, das erste Stück des Abends, wurde von der Gastchoreografin Maxine Doyle, die der künstlerischen Leitung der 2000 gegründeten und bereits jetzt als legendär zu bezeichnenden Londoner Theaterkompanie “Punchdrunk“ angehört, entwickelt.
“After Lethe“, das erste Stück des Abends, wurde von der Gastchoreografin Maxine Doyle, die der künstlerischen Leitung der 2000 gegründeten und bereits jetzt als legendär zu bezeichnenden Londoner Theaterkompanie “Punchdrunk“ angehört, entwickelt.
Die Tänzerin Zoe Gyssler erinnert sich an den Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit: “Maxine kam mit der Idee nach Kassel die antike Sage um den Fluss Lethe weiterzuführen. Wer vom Wasser dieses Flusses trinkt, verliert seine Erinnerung und laut der Sage wandern die Seelen von Verstorbenen zu diesem Fluss, um das vergangene Leben zu vergessen und sich von ihm zu befreien. Maxine wollte der Frage nachgehen, was passiert, wenn Lethe austrocknet, wir nicht mehr vergessen können und gezwungen sind mit unseren eigenen Dämonen zu tanzen.“
“In meinem Kopf herrscht anfangs eine riesige Bilderflut“, gibt Maxine Doyle Einblick in ihre Arbeitsweise. Ein Aspekt, den Zoe Gyssler aus ihrer Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der Engländerin unterstreichen kann: “Maxine hat eine Überflut von Bildern in ihrem Kopf. Sie stellt sich ganz viele Dinge vor und springt blitzartig von einem inneren Bild zum nächsten, sodass es für uns manchmal eine Herausforderung war, ihr zu folgen. Die genaue, endgültige Struktur sucht und findet sie erst gegen Ende des Arbeitsprozesses.“
Bei “After Lethe“ ist deutlich erkennbar, wie sehr sich Maxine Doyle bei der Entwicklung ihrer Stücke von visuellen Vorstellungen leiten lässt, denn wiederholt entstehen auf der Bühne wirkungsvolle, einprägsame Bilder von bisweilen cineastischer Qualität, die ganz unterschiedliche persönliche Erinnerungen beim Zuschauer zu wecken vermögen.
Matthieu Götz hat ein einnehmendes Bühnenbild geschaffen, das die Tänzerinnen und Tänzer sowie die Zuschauer an einen nicht eindeutig bestimmbaren Ort führt, der an eine nächtliche Bar, eine verwaiste Wartehalle, eine verlassene Hotelrezeption oder auch an einen Keller, der sowohl Schutz bietet als auch klaustrophobisch wirken kann, erinnern mag.
In jedem Fall scheint es sich um einen Ort des Durchgangs zu handeln, dessen Bestimmung nicht darauf ausgerichtet ist, Menschen hier verwurzeln zu lassen, sondern dessen Zweck geradezu darin zu liegen scheint, nach einer Phase des Verweilens, wieder verlassen zu werden.
Die Bühne sowie die Requisiten stellten für die Tänzerinnen und Tänzer zunächst durchaus eine Herausforderung dar, erinnert sich Zoe Gyssler schmunzelnd: “Das viele Wasser auf der Bühne und dazu noch die Asche, die während einer Szene aufwirbelt“¦ wir sind anfangs oft ausgerutscht oder hatten diese Asche im Mund. Schwierig war es auch mit dem geringen Licht, das auf der Bühne herrscht, zurechtzukommen.“
Die Bühne sowie die Requisiten stellten für die Tänzerinnen und Tänzer zunächst durchaus eine Herausforderung dar, erinnert sich Zoe Gyssler schmunzelnd: “Das viele Wasser auf der Bühne und dazu noch die Asche, die während einer Szene aufwirbelt“¦ wir sind anfangs oft ausgerutscht oder hatten diese Asche im Mund. Schwierig war es auch mit dem geringen Licht, das auf der Bühne herrscht, zurechtzukommen.“
“After Lethe“ entfaltet die Wirkung einer nahezu epischen Erzählung, bei der den einzelnen Tänzerinnen und Tänzern klare Charaktere zugeordnet sind. Somit erlebt der Zuschauer auf der Bühne wartende, trauernde, reisende, feierlustige oder drogensüchtige Individuen, die allesamt unter ihrer jeweiligen Oberfläche angsterfüllt, orientierungslos und wie auf der Flucht wirken.
Die zu verkörpernden Charaktere wurden den Tänzerinnen und Tänzern von Maxine Doyle zugewiesen. “Bereits im Vorfeld hatte sich Maxine Videos von uns Tänzern angeschaut, um sich einen ersten Eindruck von uns machen zu können“, schildert Zoe Gyssler. “Und während der ersten Tage der gemeinsamen Arbeit haben wir viele Übungen gemacht, die noch nicht viel mit dem konkreten Stück zu tun hatten. Wir bekamen zum Beispiel kleine Kärtchen, auf denen kurze Aufgaben standen, die es galt körperlich umzusetzen. Dabei wird sie sich entschieden haben, wer zu welcher Rolle passt.“
Maxine Doyle wies Zoe Gyssler und Victor Rottier die Rollen von zwei Drogensüchtigen zu. “Sie hat uns ein Video von zwei Crackheads gezeigt, die versucht haben sich gegenseitig zu schlagen, es aber nicht hinbekommen haben, weil sie gar nicht die ausreichende Kontrolle über ihren Körper hatten. Maxine hat sich für die Physis dieser beiden interessiert und uns den Auftrag gegeben, passende Bewegungsmuster hierfür zu finden und zu entwickeln.“
Somit erleben die Zuschauer in dem etwa 40minütigen Stück ganz unterschiedliche Charaktere und damit auch Bewegungsformen auf der Bühne. In Erinnerung bleiben wird sicherlich das Solo von Shafiki Sseggayi, der mit jeder Produktion an Ausdruckskraft zu gewinnen scheint, die großartige Gotaute Kalmataviciute, die zum Abschluss des Stückes alleine im Regen stehend für ein starkes Bild sorgt oder die tolle Begräbnisszene mit einem anschließenden Trauer-Solo von Camilla Brogaard Andersen.
“Das war ein intensiver Prozess für mich und uns alle“
Für die beteiligten Tänzerinnen und Tänzer bedeutet die zeitgleiche Erarbeitung von zwei Stücken eine besondere Belastung, zumal noch weitere Produktionen, in die Sie einbezogen sind, hinzukommen. “Das war schon ein intensiver Prozess für mich und uns alle“, räumt Zoe Gyssler ein. “Wie mussten zwei Stücke erarbeiten, haben zeitgleich noch unsere vorangegangene Produktion “You will be removed“ aufgeführt, waren mit “The Who´s Tommy“ auf Tournee und sind auch an dem Musical “Kiss me, Kate“ beteiligt. Das waren sehr viele unterschiedliche Informationen, die man verarbeiten musste und auch das ständige hin- und herspringen zwischen den einzelnen Produktionen war nicht ganz leicht.“Ereignishorizont: “Wir suchen unseren jeweiligen Charakter bei jeder Aufführung
“Ereignishorizont“, das zweite Stück des Abends, trägt mit der Choreografie von Johannes Wieland eine gänzlich andere Handschrift und wirkt wesentlich abstrakter. Zoe Gyssler bestätigt, dass sich die Arbeitsweise von Johannes Wieland erheblich von jener Maxine Doyles unterscheidet und gibt interessante Einblicke in den Entstehungsprozess des Stückes.
“Johannes hat von Beginn an eine sehr klare Vorstellung von der choreografischen Struktur, welche sich während dem Prozess und bis über die Aufführungen hinaus aber stetig verändert. Bei der Erarbeitung standen theatrale Aufgaben, wie beispielsweise die Darstellung von “Gier“, im Vordergrund. Anders als bei Maxine finden wir bei Johannes unsere Charaktere, natürlich nach gewissen Vorgaben, selbstständig. Wir suchen unseren jeweiligen Charakter bei jeder Aufführung aufs Neue und entdecken somit stetig neue Dinge.“
Der titelgebende “Ereignishorizont“ bezeichnet in der Physik die Grenze in der Raumzeit, für die gilt, dass jegliche Ereignisse jenseits dieser Grenze nicht beobachtbar sind. Informationen können durch den Ereignishorizont nicht nach außen dringen und scheinen damit verschwunden zu sein. “Ich glaube den Titel hat Johannes recht spät festgelegt“, vermutet Zoe Gyssler. “Ich weiß nicht, warum er diesen Titel gewählt hat. Vielleicht wollte er damit auf das Verschwinden von Ressourcen wie Wasser, was ja im Stück erwähnt wird, anspielen. Wohin verschwinden diese Ressourcen und sind sie überhaupt tatsächlich verschwunden? Aber dieser Gedankenansatz ist meine persönliche Interpretation.“
Soziale Ungerechtigkeiten, die fragwürdige Verteilung von Ressourcen sowie die zunehmende Ökonomisierung der Lebensumstände rufen die Sehnsucht nach Gerechtigkeit hervor. Mit diesem Themenkomplex setzt sich das zweite Stück des Abends auseinander, wobei das Interesse von Choreograf Johannes Wieland, seit der Spielzeit 2006/07 Tanzdirektor des Staatstheaters Kassel, tiefer geht.
“Johannes haben eher psychologische Ressourcen interessiert“, weiß Zoe Gyssler zu berichten. “Welche psychischen Ressourcen benötigt ein Mensch, um sich aus einer tiefen Depression zu befreien? Welche Ressourcen sind erforderlich und müssen aktiviert werden, wenn eine intensiv empfundene Liebe unbeantwortet und unerfüllt bleibt? Solchen Fragen sind wir bei der Erarbeitung des Stückes nachgegangen.“
Bei der Suche nach Gerechtigkeit geht es auch um den Wunsch, Beachtung zu finden und die einem selbst als angemessen erscheinende Aufmerksamkeit zu erlangen. Menschen wollen gehört werden. In einer Szene schnipsen die Tänzer, wie aufgeregte Grundschulkinder, die ihrem Lehrer verdeutlichen möchten, dass Sie die richtige Antwort wissen oder etwas Wichtiges zum Unterricht beitragen können, mit den Fingern und bemühen sich ganz nah an den Bühnenrand zu gelangen, um keinesfalls übersehen zu werden.
Das Bühnenbild unterscheidet sich erheblich von jenem aus “After Lethe“, denn lediglich ein riesiger Hirsch steht auf der ansonsten leeren Bühne. “Beim Bühnenbild hatte Johannes zunächst einen anderen Gedanken, welchen er im Verlauf vom Prozess wieder verworfen hat“, äußert Zoe Gyssler. “Dann hatte er die Idee mit dem Hirsch, der die Natur, Kraft und Stärke, aber auch Zerbrechlichkeit symbolisiert. Dass die Bühne ansonsten leer ist, finde ich als Tänzerin toll. Die Hindernisse sind im Grunde die anderen Tänzer. Da wir in dem Stück viel rennen, müssen wir ganz genau wissen, wo sich die anderen gerade befinden und wohin sie sich als nächstes bewegen werden. Das ist eine der Herausforderungen bei dem Stück.“
Die recht leere Bühne ermöglicht dem Zuschauer einen klaren Blick auf die Choreografie und zu erleben wie es Johannes Wieland versteht, das Tempo zu wechseln, zwischen leisen und konfus wirkenden Phasen zu pendeln und das 16-köpfige Ensemble immer wieder fließend zu unterschiedlichen Konstellationen zusammenzufügen ist großartig. Insbesondere beeindruckt es, wenn das gesamte Ensemble in packenden Gruppenszenen performt und von der Bühne eine fesselnde Energie verströmt, die unvermittelt die Zuschauer erreicht.
Unter den 16 Tänzerinnen und Tänzern befinden sich auch einige Gasttänzer, die eigens für diese Produktion engagiert wurden. Diese in die Gruppe zu integrieren sei, so Zoe Gyssler, eine wichtige Aufgabe gewesen, zumal das gegenseitige Vertrauen innerhalb eines Tanzensembles von entscheidender Bedeutung sei. Dies habe jedoch problemlos funktioniert. “Wir haben sehr schnell zueinandergefunden. Viele kannten sich auch schon aus “Aurora“ und anderen vergangenen Produktionen und Johannes hat ohnehin ein sehr gutes Händchen, wenn es darum geht Personen auszuwählen und zu einer Gruppe zusammenzufügen.“
Doch auch in künstlerischer Hinsicht stellen die Gasttänzer eine enorme Bereicherung dar, wenn man beispielsweise an das großartige Duett zwischen Safet Mistele und Juan José Tirado Pulido oder an die exzellente Pin-Chieh Chen denkt, die ein packendes Duett mit Luca Ghedini tanzt und über ein Wiedersehen mit dem charmanten Rémi Benard, der einst als festes Ensemblemitglied in Kassel engagiert war, zeigt sich das Publikum ohnehin stets erfreut.
Zoe Gyssler ist in zwei längeren Sprechpassagen zu erleben, in denen sie mit einer verwirrenden Naivität von ihrem verloren gegangenen Lippenstift berichtet. Ein Missgeschick, das sie derart aus der Fassung geraten lässt, dass sie schließlich die gesamte Welt vernichten möchte. Dass Johannes Wieland ihr diese Sprechszenen anvertraut hat, habe sie sehr gefreut, “auch wenn ich dann ein bisschen überrascht war, dass der Text um einiges länger als in der letzten Produktion “You will be removed“ war“, fügt sie lachend hinzu.
Interessant sei es gewesen, zum ersten Mal in ihrer Karriere in einem Tonstudio gearbeitet zu haben und eine besondere Herausforderung sei die Gestaltung der aus Heiner Müllers Theaterstück “Die Hamletmaschine“ zitierten Textpassage gewesen. “Da hatte ich schon großen Respekt, weil es eben ein sehr bekannter Text ist und ich wollte ihn mit der nötigen, aber auch nicht mit übertriebener Dramatik vortragen“¦ das war eine Gratwanderung“¦ und ist es immer noch.“
Einprägsame Bilder
Gegen Ende des Stückes steht der riesige, kraftstrotzende Hirsch, der eben doch zerbrechlich ist, in Flammen. Auch dies ist ein starkes, einprägsames Bild, von denen dieser Tanzabend, mit seinen beiden gänzlich unterschiedlichen Choreografien, zahlreiche bietet.Wer die Tänzerinnen und Tänzer auf der Suche nach Gerechtigkeit und beim Tanz mit den eigenen Dämonen am ausgetrockneten Fluss Lethe erleben möchte, kann Karten für weitere Vorstellungen an der Kasse des Staatstheaters Kassel (Tel.: 0561/1094-222) oder online unter www.staatstheater-kassel.de erhalten.
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