Kultur
Tanztheaterabend “Aurora“ am Staatstheater Kassel
Wünsche, Träume & Ängste
(Quelle: N.Klinger)
1890 wurde in Sankt Petersburg das Ballett “Dornröschen“, mit der Choreografie von Marius Petipa und zur Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, der seine Komposition selbst als sein bestes Ballett bezeichnet hat, uraufgeführt. Es gilt bis heute als eines der populärsten Ballette, dessen Handlung die Erzählung “La belle au bois dormant“ von Charles Perrault zugrunde liegt, die sich in einigen Bereichen von der in Deutschland bekannten Dornröschenversion der Brüder Grimm unterscheidet.
Nach Jahren des hoffnungsvollen Wartens bekommt das Königspaar endlich eine Tochter und gibt ihr den Namen Aurora. Zur Tauffeier der kleinen Prinzessin werden sechs Feen gebeten, doch fatalerweise wurde die siebte Fee bei der Einladung übergangen. Diese platzt aus heiterem Himmel und in äußerster Wut über diese Missachtung in die Feierlichkeiten und verflucht das Kind. An ihrem 16.Geburtstag werde sich Aurora an einer Spindel stechen und sterben. Eine der anwesenden Feen besitzt glücklicherweise die Macht, den Fluch abzumildern und kann den angekündigten Tod in einen hundertjährigen Schlaf verwandeln. Durch den Kuss eines Prinzen werde Aurora den Schlaf durchbrechen.
Der Kasseler Tanzdirektor Johannes Wieland hat sich an den jahrhundertealten Stoff gewagt und versucht, die Handlung in die heutige Zeit zu transportieren. Wie beim zeitgenössischen Tanztheater üblich, entwirft er keine klassische Handlung mit linearer zeitlicher Entwicklung, sondern greift stattdessen Motive des Märchens schlaglichtartig auf. Aber auch inhaltlich bleibt Wieland nicht an der Oberfläche der Geschehnisse um die Königstochter haften, sondern er schaut gewissermaßen hinter die Kulissen des Märchens. Statt die bekannte Geschichte erneut zu erzählen, scheint ihn vielmehr zu interessieren, was Perrault oder die Gebrüder Grimm eben nicht erwähnt haben.
Was passiert mit Aurora, während ihres hundertjährigen Schlafes? Laut Freud dringt im Schlaf das Unbewusste an die Oberfläche - unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte fordern ihr Recht. Zeitebenen, die uns im Wachzustand Halt und Orientierung geben, relativieren sich. Fantasie, Wünsche, Ängste und Wirklichkeit vermischen sich zu einer ganz neuen Realität. Schlaf bedeutet aber auch Einsamkeit und Getrenntsein von der materiellen Welt.
Johannes Wieland zeigt mit seiner Choreografie die Geschichte von einem Mädchen, das gegen die Einsamkeit, Isolation und gegen das Böse kämpft und ihre Identität sucht.
Johannes Wieland zeigt mit seiner Choreografie die Geschichte von einem Mädchen, das gegen die Einsamkeit, Isolation und gegen das Böse kämpft und ihre Identität sucht.
Für die Produktion auf der großen Bühne des Opernhauses wurde die Kasseler Tanzcompagnie durch internationale Gäste zu einem 20-köpfigen Ensemble verstärkt.
Neben möglichen Interpretationen und Inspirationen, die der Stoff bietet, bekommt das Publikum in Kassel vor allem sehr viel Tanz geboten. Johannes Wieland versteht es vorzüglich durch ineinandergreifende Solis, Duette oder Gruppenchoreografien die Spannung über den Abend aufrechtzuerhalten und verlangt dabei seinen Tänzern ein enormes Spektrum an Ausdrucksformen ab.
Das Kasseler Ensemble löst die gestellte Aufgabe wie gewohnt mit Bravour. Auch die Auswahl der Gäste, die eigens für diese Produktion engagiert wurden, ist als äußerst gelungen zu bezeichnen. Herauszugreifen ist beispielsweise Pin-Chieh Chen, die, nachdem sie in der Vergangenheit über mehrere Jahre festes Ensemblemitglied war, als Gast an das Staatstheater Kassel zurückgekehrt ist und mit ihrer Schnelligkeit und Dynamik beeindruckt. Der Süd-Koreaner Jeong Pilgyun Jeong, der ebenfalls kein Unbekannter in Kassel ist, da er 2013/2014 bereits für eine Produktion in Kassel engagiert war, begeistert und fasziniert mit anmutigen und äußerst exakten Soli.
Das Ensemble wirkt in seiner Gesamtheit harmonisch und trotz der dominierenden Gruppenszenen, in denen oftmals alle Tänzer gleichzeitig auf der Bühne agieren, erhält jeder einzelne von ihnen auch die Gelegenheit seine Individualität einzubringen, wie beispielsweise Shafiki Sseggayi, der sich zunehmend als großer Gewinn für das Ensemble zeigt und Rémi Benard, der bereits seit Jahren mit kurzer Unterbrechung auf der Kasseler Bühne zu sehen ist, die beide ästhetisch sehr ansprechende Soli zeigen. Lauren Rae Mace, ebenfalls eine gute Bekannte in Kassel, versteht es durch ihre ungewöhnliche Erscheinung sowie ihr schauspielerisches Talent immer wieder die Blicke auf sich zu lenken.
Das Staatsorchester spielt die Komposition von Tschaikowsky in einer eigens für diesen Abend erarbeiteten Fassung, mit ungewohnter Abfolge, Wiederholungen und eingebauten musikalischen Elementen von Donato Deliano, der bereits bei zahlreichen Tanzproduktionen am Staatstheater großartige Arbeit geleistet hat. Den Musikern gelingt es unter der Leitung von Yoel Gamzou Tschaikowskys ekstatische Komposition eindringlich, leidenschaftlich und fesselnd zu interpretieren, wofür sie zurecht großen Beifall ernten.
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