Kultur
„Die Hebamme“ am Staatstheater Kassel
„Ich brauch meine 4 Wände für mich“
(Quelle: Katrin Ribbe)
Ein kniehoher Gedenkstein am Rande des Forstbachwegs im Kasseler Ortsteil Forstfeld erinnert an die im Volksmund „Lettenlager“ genannten Baracken, in denen in den Nachkriegsjahren Menschen aus Estland und Lettland untergebracht waren. In unmittelbarer Nähe ist inmitten eines vergessen wirkenden Geländes, auf dem Treppen ins Nichts zu führen scheinen, ein unter Denkmalschutz stehender blassblauer Torpfosten des einstigen Lagers erhalten geblieben.
Dieses bestand bereits Anfang der 1940er-Jahre, als die Firma Junkers-Flugzeug- und Motorenwerke an diesem seinerzeit von einem Stacheldrahtzaun umgebenen und von der erbarmungslosen Werkspolizei bewachten Ort Lehrlinge und Zwangsarbeiter einquartierte.
Dieses bestand bereits Anfang der 1940er-Jahre, als die Firma Junkers-Flugzeug- und Motorenwerke an diesem seinerzeit von einem Stacheldrahtzaun umgebenen und von der erbarmungslosen Werkspolizei bewachten Ort Lehrlinge und Zwangsarbeiter einquartierte.
In den 1950er-Jahren brachte die Stadt Kassel, die das Grundstück zuvor erworben hatte, in den mittlerweile ungenutzten Baracken Obdachlose unter, die schon bald unter verheerenden und überaus beengten Umständen ihr Dasein fristeten. Nicht nur in der Lokalpresse, gar in einer deutschsprachigen Zeitung im fernen Kanada wurde von Not, Elend, Verwahrlosung und Unterernährung geschrieben und zu Spenden für „die hungrigen Kinder von Kassel“ aufgerufen.
1971 nutzen die Obdachlosenfamilien die Gunst der Stunde und schreckten die örtlichen Behörden auf, als sie sich im Stadtteil Wehlheiden an einer Besetzung leerstehender Reihenhäuser, die einst von stationierten belgischen Soldaten bewohnt wurden, beteiligten.
Im Juli 1971 erfolgte die angedrohte Zwangsräumung der besetzen Häuser, bei der die Menschen von Hundertschaften rücksichtslos aus den Wohnungen getrieben und zurück ins verlassene „Lettenlager“ geschickt wurden. Dies geschah unter den Augen von solidarischen Demonstranten und Medienvertreten, die mittlerweile auf die eskalierende Situation in Kassel aufmerksam geworden waren.
Im Juli 1971 erfolgte die angedrohte Zwangsräumung der besetzen Häuser, bei der die Menschen von Hundertschaften rücksichtslos aus den Wohnungen getrieben und zurück ins verlassene „Lettenlager“ geschickt wurden. Dies geschah unter den Augen von solidarischen Demonstranten und Medienvertreten, die mittlerweile auf die eskalierende Situation in Kassel aufmerksam geworden waren.
Durch das erwachte öffentliche Interesse geriet die Kasseler Stadtverordnetenversammlung unter Druck und beschloss den Abriss des Lagers sowie den Neubau moderner Sozialwohnungen, die etwa 1000 Menschen zur Verfügung gestellt wurden.
An der erfolgten Wende hatte auch das Stück seinen Anteil, das 51 Jahre nach seiner Uraufführung am vergangenen Samstag im Staatstheater Kassel Premiere feierte.
An der erfolgten Wende hatte auch das Stück seinen Anteil, das 51 Jahre nach seiner Uraufführung am vergangenen Samstag im Staatstheater Kassel Premiere feierte.
Der in Nordhessen geborene Dramatiker Rolf Hochhuth (1931 - 2020) griff den kommunalen Skandal auf, erkannte das dramatische Potenzial und verfasste eine Satire rund um die Auseinandersetzungen im Kasseler „Lettenlager“.
Er ersann die eigensinnig-listige Hebamme Sophie, die mit illegalen und manipulativen Mitteln den Kampf gegen die bestehende Ungerechtigkeit sowie die vetternwirtschaftlichen Beziehungen der Amts- und Würdenträger aufnimmt.
Er ersann die eigensinnig-listige Hebamme Sophie, die mit illegalen und manipulativen Mitteln den Kampf gegen die bestehende Ungerechtigkeit sowie die vetternwirtschaftlichen Beziehungen der Amts- und Würdenträger aufnimmt.
Regisseur Tom Kühnel versetzt das Publikum in eine Fernsehshow des Jahres 1971 - inklusive Showtreppe, Glitzer und Glamour, Gesang und Kalauern, einem Gewinnspiel, Publikumsbeteiligung, einem Fernsehballett sowie Erinnerungen an Stars wie Peter Alexander, Udo Jürgens und Hans-Joachim Kulenkampff. Auf der Bühne wird ein Feuerwerk an Regieideen gezündet und zahlreiche Spielweisen präsentiert. Es wird gesungen, geulkt, getanzt, getalkt und geschauspielert, was über weite Strecken unterhaltsam und witzig ist, den politischen Hintergrund und die moralischen Fragen, die das Stück aufwirft, jedoch in den Hintergrund treten lässt – ganz so wie TV-Unterhaltungsshows konzipiert waren und bis heute sind.
Das gut aufgelegte Ensemble um Jakob Benkhofer, der als Marcel Reich-Ranicki zu begeistern weiß, Marius Bistritzky, Zazie Cayla, Annalena Haering, die mit hinreißendem holländischem Akzent durch den Abend führt, Günther Harder, Johann Jürgens, Annett Kruschke, Hagen Oechel und Christina Weiser erntet zu Recht viel Applaus, wird ihm doch aufgrund der temporeichen, vielgestaltigen Inszenierung sowie der Mehrfachrollen einiges abverlangt.
Musikalisch führt die Band „Die Babies“, bestehend aus der Münchener Musikerin Polly POLLYESTER sowie dem Drummer Chikara Aoshima, durch den Abend und sorgt für einige Highlights wie den klug gewählten Song „4 Wände“ der einstigen Hausbesetzer-Ikone Rio Reiser.
Des Weiteren tritt der Kinderchor des Wilhelmsgymnasiums, der wiederholt Szenenapplaus erntet, sowie die "Aktionsgruppe Hebamme" des Tanzsportvereins Rot-Weiss-Klub Kassel e.V. auf, womit das Staatstheater den eingeschlagenen Weg der Öffnung zur Stadt fortsetzt.
Es ist anerkennenswert, dass das Staatstheater Kassel ein Stück mit einem unmittelbaren Ortsbezug auf den Spielplan setzt und somit die Erinnerung an die Geschehnisse vor gut 50 Jahren wachhält. Die Maxime der Hebamme Sophie „Hält man sich an die Gesetze, verstößt man gegen die Moral. Hält man sich an die Moral, verstößt man gegen die Gesetze“ und damit die Frage, ob es legitim ist für eine moralisch gute Sache, illegale Mittel einzusetzen, hätte stärker in den Fokus gerückt werden können. Doch die Publikumsreaktion zeigt, dass der witzige und unterhaltsame Abend dankbar aufgenommen wird.
Nach dem Stück „Leere Stadt" in der vergangenen Spielzeit, nimmt das Staatstheater Kassel erneut das drängende Thema Wohnungsnot in den Blick. Laut Menschenrechtskonvention besitzt jeder Mensch das Recht „auf angemessenen Wohnraum“ - eine Postulation, die auch in Kassel noch immer nicht verwirklicht ist. „Ich brauch meine 4 Wände für mich - die mich schützen vor Regen und Wind - wo ich nur sein muss, wie ich wirklich bin“, hallen Rio Reisers Worte bis heute.
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