Kultur
„zentralmassiv“ von Johannes Wieland im Kulturhaus Dock 4 (Kassel)
„Do you remember the flamingos?“
(Quelle: Bastian Arndt )
GDN -
Am vergangenen Wochenende konnte ein tanzinteressiertes Publikum im Kulturhaus Dock 4 in Kassel das neueste Stück von Johannes Wieland erleben. Die beiden großartigen Tänzerinnen Cree Barnett Williams und Gotaute Kalmataviciute führen das Publikum in eine Flamingokolonie.
„Do you remember the flamingos?“, erkundigt sich die Tänzerin Cree Barnett Williams beim Publikum. Zweifellos hat jeder sogleich die hübschen rosafarbenen Vögel, die anmutig und mit der notwendigen Ruhe, Konzentration und Gelassenheit auf einem Bein stehen können, vor Augen. In seiner aktuellen Choreografie „zentralmassiv“ nimmt uns Johannes Wieland mit auf eine Reise in eine Flamingokolonie und beleuchtet dort ausgehend von dem Interesse an politischen Systemen insbesondere die Demokratie.
Das titelgebende Zentralmassiv ist ein Gebirge, das seinen Namen aufgrund seiner zentralen Lage im Süden Frankreichs trägt, jedoch keine geografische Einheit darstellt. Vielmehr weist es teils erhebliche Unterschiede hinsichtlich des herrschenden Klimas sowie der Bodenverhältnisse auf, sodass es sich in mehrere differenzierte Regionen unterteilen lässt.
Auch die äußerst geselligen Flamingos leben in unterschiedlichen Regionen und in differenzierten Kolonien, die Tausende oder Zehntausende Individuen umfassen können. Die Lebensweise in einer Kolonie, innerhalb der die Vögel in großer Nähe zueinander brüten und ritualisierte Verhaltensweisen entwickeln, verleiht den Flamingos ein Sicherheitsgefühl, aufgrund dessen sie auf eine aktive Verteidigung gegenüber Fressfeinden weitestgehend verzichten. Von Jahr zu Jahr wandern einzelne Jungvögel ab, wobei die Zahl abhängig von vorhandenen Störungen innerhalb der Kolonie zu sein scheint. Manche von ihnen etablieren in der Folge eine gänzlich neue Kolonie.
Diesen biologischen Hintergrund nutzt Johannes Wieland als Bild für das menschliche Miteinander innerhalb einer Gemeinschaft. Wer innerhalb der imaginären Flamingokolonie auf der Bühne eine abweichende oder gänzlich neue Meinung einnimmt, verlässt die Kolonie und findet Herberge in einer anderen, was zur Folge hat, dass innerhalb der eigenen Kolonie wie in einer Filterblase Meinungseinheit herrscht, was auf Dauer langweilig und wenig inspirierend wirken kann, aber auch Zufriedenheit, Zuversicht und Sicherheit vermittelt.
Diese Ideen werden durch die großartigen Tänzerinnen Cree Barnett Williams und Gotaute Kalmataviciute auf der Bühne zum Leben erweckt.
Diese Ideen werden durch die großartigen Tänzerinnen Cree Barnett Williams und Gotaute Kalmataviciute auf der Bühne zum Leben erweckt.
Beide Künstlerinnen sind dem Kasseler Publikum vertraut. Die in Großbritannien geborene Cree Barnett Williams war von 2015 bis 2019 Ensemblemitglied am Staatstheater Kassel und die Litauerin Gotaute Kalmataviciute stand dort von 2014 bis 2018 auf der Bühne, kehrte aber als Gast auch in den folgenden Jahren gelegentlich an das Staatstheater zurück. Die beiden enorm ausdrucksstarken Künstlerinnen fesseln das Publikum von der ersten Sekunde durch ihre tänzerische Ausdruckskraft, die zwischen energiegeladenen und zeitlupenartigen Bewegungsformen changiert und bis in die detaillierten energetischen Handbewegungen große Perfektion offenbart.
Die Performance erfolgt innerhalb eines reduzierten, äußerst ansprechenden Bühnenbildes, das von Momme Röhrbein, der seit vielen Jahren als Ausstatter in zahlreichen namhaften Theatern in Deutschland tätig ist, gestaltet wurde und von einem ausgefeilten Soundtrack, der sphärische Melodien, Jazzklänge, ethnische Trommelsounds und dröhnende Beats miteinander verbindet, begleitet wird.
Die beiden Tänzerinnen freuen sich im Verlauf des Abends mit Blick ins Publikum wiederholt über die anwesenden Freunde. Das schafft ein Gemeinschaftsgefühl, das auch für Flamingos von zentraler Bedeutung ist. Als die Tierpfleger im Zoo auf der Isle of Wight beobachtet hatten, dass die Flamingos ihre eigenen Eier und somit ihre künftigen Nachkommen geradezu misshandelten, vermuteten sie als Ursache für dieses eigentümliche Verhalten die ungewohnte Einsamkeit der Tiere, denn die 34 Exemplare in dem britischen Zoo stellten im Vergleich zu den Tausenden Artgenossen in ihrer natürlichen Umgebung eine vergleichsweise nur kleine Gemeinschaft dar.
Dieser Umstand schien die Vögel nicht ausreichend zu motivieren, eine beständige Gemeinschaft zu bilden. Es kam eine Idee auf, die mittlerweile auch der Zoo in Leipzig erfolgreich wiederholt hat. Mittels aufgestellter Spiegel wurde den Flamingos vorgegaukelt, in einer Großkolonie zu leben. Der Trick funktionierte tatsächlich. Die Flamingos begannen nach Jahren erneut zu brüten.
Johannes Wieland war bis zu der aktuellen Spielzeit als Tanzdirektor und Hauschoreograf am Staatstheater Kassel tätig. In den vergangen 15 Jahren, in denen er diese Position eingenommen hat, ist es ihm gelungen, den Tanz in Kassel zu etablieren und eine beachtliche Fangemeinschaft für diese Kunstform zu gewinnen. Die Stadt Kassel hat dem Choreografen zweifellos vieles zu verdanken und umso schöner ist es, dass Johannes Wieland diese Verbindung auch nach seinem Ausscheiden als Tanzdirektor aufrechterhalten möchte und sein neues Stück bewusst in Kassel zur Premiere gebracht hat.
Die Tanzinteressierten in der Stadt würde es sicherlich freuen, wenn Johannes Wieland sie auch zukünftig in ferne Kolonien führen würde und dieses gemeinsam mit solch außergewöhnlichen Künstler*Innen wie Cree Barnett Williams und Gotaute Kalmataviciute. Diese beiden mit ihrer energetischen Ästhetik in einer intimen Wohnzimmeratmosphäre zu erleben, war für das Publikum, wie man den Reaktionen im Anschluss an die Performance entnehmen konnte, ein besonderes Vergnügen.
Zum Ende des Abends wünscht Gotaute Kalmataviciute den Zuschauern „Sweet dreams“. Vielleicht erscheint diesen im Traum ein Flamingo, der in der Traumdeutung die Sehnsucht nach Liebe symbolisiert. Doch die mittels des Flamingos in der Nacht versinnbildlichte Liebe bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern auf die gesamte Natur - eingeschlossen die eigene. Es gilt, sein Herz zu öffnen und eine grenzenlose Liebe, die über das eigene Leben hinausgeht, zu erlangen. Eine solche Liebe ist – ähnlich wie das Tanztheater - nicht beschreibbar, sondern nur erfahrbar.
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