Kultur
„Grimm. Ein deutsches Märchen“ (Jan-Christoph Gockel) am Staatstheater Kassel
Ein märchenhafter Theaterabend
(Quelle: Katrin Ribbe)
Es waren einmal zwei unzertrennliche Brüder, die viel Freude an fantasiereichen Geschichten und Mythen hatten, weshalb sie diese sammelten, niederschrieben und veröffentlichten. Diese Sammlung - die Märchen der Gebrüder Grimm - ist in beinahe jedem Haushalt in Deutschland zu finden, hat dessen Leser - und jene, die daraus vorgelesen bekamen - geprägt und gilt als das neben der Luther-Bibel bekannteste und meistübersetzte Buch deutscher Sprache.
Über die zwei Brüder Jakob und Wilhelm Grimm ist vergleichsweise weniger bekannt. Regisseur Jan-Christoph Gockel setzt sich in seinem Theaterstück „Grimm. Ein deutsches Märchen“, das 2013 am Staatstheater Mainz uraufgeführt wurde und am vergangenen Samstag in Kassel Premiere feierte, mit den so eng verbundenen und dennoch sehr unterschiedlichen Brüdern, deren Lebensstationen und historischen Ereignissen auseinander, verleiht auch ihren weiteren Geschwistern ein Gesicht und zeigt, dass die von Jakob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen bis heute eine kostbare Fundgrube sind, die einiges über die deutsche Geschichte und Kultur offenbaren.
Endlich ist das Stück auch in Kassel zu erleben, wo Jakob und Wilhelm in ihrer in der kaum mehr als 5 Gehminuten vom Staatstheater entfernten Wildemannsgasse gelegenen Bibliothek die Märchen, die bis heute mit ihrem Namen verbunden werden, zusammentrugen. Hierzu wurde der Theaterabend weiterentwickelt, mit – abgesehen vom Puppen- und Schauspieler Michael Pietsch - neuen Schauspielern einstudiert und an die Spielstätte in Kassel angepasst.
Doch der Abend beginnt zunächst am vorderen Bühnenrand in einer beengten, mit zerschlissenen Sesseln und schlichten Möbeln ausgestatteten Wohnung in Hanau, in die Jakob und Wilhelm Grimm kurz nach ihrer Geburt mit ihren Eltern gezogen sind. Mutter Grimm zeigt sich bemüht, ihren sechs Kindern ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu vermitteln, mithilfe von volkstümlichen Erzählungen Geborgenheit zu vermitteln und die bescheidenen Verhältnisse vergessen zu lassen.
Nach der Eröffnungsszene öffnet sich die Bühne (Julia Kurzweg) und offenbart einen Blick in die Tiefe eines angedeuteten Märchenwaldes. Hier erleben die Zuschauer die Familie Grimm in wechselnden, teils poetischen, teils bildgewaltigen oder von Soundeffekten und Musik getragenen Szenen, die ein fesselndes Kaleidoskop entstehen lassen. Kunstvoll lässt Jan-Christoph Gockel dabei die allseits bekannten Märchen in die Erzählung einfließen und verknüpft die Realität mit der surrealen Fantasiewelt.
Zu einem besonderen Erlebnis wird das Stück durch die von dem innovativen Puppenbauer Michael Pietsch, der seit Jahren mit dem Regisseur Jan-Christoph Gockel zusammenarbeitet und mit ihm eine ganz eigene Theatersprache entwickelt hat, kreierten Puppen, in denen jede Bühnenfigur ihr eigenes Spiegelbild entdeckt. Den Puppen wohnt eine geradezu magische Ausstrahlung inne. Sie sind Abbild der Figuren, die der Zuschauer zeitgleich real auf der Bühne sieht und vieles lässt sich in sie hineinprojizieren.
Zudem verwandeln sich die Mitglieder der Familie Grimm im Verlaufe des Abends in wechselnde Märchenfiguren und begegnen somit ihrem eigenen Unterbewusstsein.
All diese verschiedenen Ebenen werden von Jan-Christoph Gockel spielerisch und trotzdem klug, hintergründig, poetisch und ideenreich miteinander verwoben. Auf der Bühne wird eine weitgespannte Geschichte erzählt. Nicht nur das Leben zweier Brüder, sondern Revolutionen und Herrscher, ein Abschnitt der deutschen Kulturgeschichte, urdeutsche Mythen und vor allem die identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion der Sprache und des Geschichtenerzählens werden beleuchtet.
Nach einem hinreißenden und eindrucksvollen Schlussbild, das die generationsübergreifende Kraft des Werkes der Gebrüder Grimm versinnbildlicht, brandet starker Applaus, der in Standing Ovations mündet, im Kasseler Schauspielhaus auf. Das Publikum hat einen ambitionierten, anregenden und märchenhaften Theaterabend erlebt, der in Erinnerung bleibt.
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