Kultur

„Der goldene Schwanz“ (Rebekka Kricheldorf) am Staatstheater Kassel

Träume von einem besseren Leben


(Quelle: N.Klinger)
(Quelle: N.Klinger)
GDN - Mit der Aschenputtel-Variante bringt das Staatstheater Kassel kurz vor Ende der Spielzeit eine unterhaltsame Uraufführung auf die Bühne. Regisseurin Schirin Khodadadian inszeniert das Stück von Rebekka Kricheldorf, das zahlreiche Klischees entlarvt, laut und temporeich.
„Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei. Du warst hier und wir waren frei“, sang einst der Musiker und Poet Rio Reiser und fasste seine Sehnsucht nach einer besseren Welt in Worte. Auch die Protagonisten auf der Theaterbühne in Kassel erträumen sich eine Zukunft, die den rauen Winter, die „Zeit der temporären Unterschicht“ oder des „fiesen Knebelvertrags mit der Produktionsfirma“ vertreibt und in der eine Geschichte, die „zuerst die eurige“ war, zur eigenen Geschichte umgeschrieben wird. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, was es bedeutet, „frei zu sein“.
Rund zweihundert Jahre nachdem die Brüder Grimm die Geschichte über das von ihren Stiefschwestern schikanierte und von ihrer Stiefmutter erniedrigte Aschenputtel zu Papier gebracht haben, präsentiert Rebekka Kricheldorf in Kassel, der einstigen Wirkungsstätte von Jacob und Wilhelm Grimm, eine zeitgenössische und vergnügliche Aschenputtel-Variante und transformiert die Erzählung aus dem Mittelalter in das 21. Jahrhundert.
Quelle: N.Klinger
Aschenputtel ist in der Familie Thausendbeauty, die in prekären Verhältnissen lebt und auf den Prinzen mit dem „goldenen Schwanz“ wartet, gelandet. Bertolt Brechts Aussage „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, lautet deren Lebensmaxime. Man träumt von eleganten Dior- und rückenfreien Versace-Kleidern und unterliegt einem unreflektierten Schönheitsideal, während Billig-Chips zum Abendbrot gereicht werden. Aschenputtel hingegen wartet auf niemanden, sondern bemüht sich, ihr Abitur nachzuholen, feministische Literatur zu verinnerlichen und emsig die nötigen Reparaturen am Haus vorzunehmen.
Im Englischen bezeichnet der nach der Märchenfigur benannte Cinderella-Komplex weibliche Geschlechterstereotypen, die auf der Angst von Frauen vor Unabhängigkeit beruhen. Die sozialisationsbedingte Ungewissheit bezüglich der eigenen Kompetenz und das Warten auf den männlichen Erlöser ließe Frauen ihre zugeschriebene Rolle akzeptieren. Die Frau müsse demzufolge in erster Linie attraktiv und höflich sein, wohingegen ihre Persönlichkeit bestenfalls zweitrangig sei.
Interessanterweise erscheint Cinderella (bzw. Aschenputtel) weder im Märchen und schon gar nicht auf der Bühne im Staatstheater Kassel als eine Frau, der selbstständige Entscheidungen widerstreben. Der dargestellte Komplex beschreibt vielmehr ihre beiden Stiefschwestern. „Persönlichkeit? Da ist doch nichts. Nur ein Hohlraum. Ein Loch. Löcher auf zwei Beinen, das seid ihr!“
Mit ihrer Auseinandersetzung mit Rollenmodellen, Geschlechterklischees und Lebenskonzeptionen wurde die Dramatikerin Rebekka Kricheldorf zu den renommierten Mülheimer Theatertagen eingeladen.
In den vergangenen Jahren verfasste sie bereits mehrfach Auftragswerke für das Staatstheater Kassel (u.a. „Das Ding aus dem Meer“, „Robert Redfords Hände Selig“, „Testosteron“, „Intervention“) und ist mit „Der goldene Schwanz“ statt auf der kleinen tif-Bühne nun erstmals im Schauspielhaus zu erleben, womit das Staatstheater Kassel ein deutliches Zeichen der Wertschätzung an die Autorin sendet.
Quelle: N.Klinger
Abermalig bringt Regisseurin Schirin Khodadadian ein Stück von Rebekka Kricheldorf zur Uraufführung. Ihre Inszenierung ist laut, schrill, temporeich, pointenreich und trashig, womit stellenweise die kluge, subtile Textvorlage verloren geht, aber das Publikum bestens unterhalten wird. Daniel Roskamp hat ein phantastisches, verschachteltes Bühnenbild entworfen, das an Elendsviertel und Hinterhöfe erinnert und die Familie in einem Käfig leben lässt, der jedoch nicht golden ist, sondern notdürftig mit sich von der Wand lösenden, rosafarbenen Blütentapeten aufgehübscht wurde.
Rahel Weiss
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Die großartige Rahel Weiss schlüpft in die Rolle des modernen Aschenputtels und stellt abermals ihr komisches Talent unter Beweis. Es macht einfach Spaß, ihrem Agieren auf der Bühne zuzuschauen. Im Gegensatz zu ihren naiven Schwestern weiß Aschenputtel, das auch ein Schloss oder eine Villa zum Käfig mutieren kann. Sie tut ihr Möglichstes, um das alltägliche Familienleben in Gang zu halten und nebenbei ihre Familie über gesellschaftliche Ungerechtigkeiten aufzuklären. „Es war Friede bei den Menschen und unter den Tier'n. Das war das Paradies“ (Rio Reiser) könnte ihrem Zukunftstraum und ihrer Vorstellung von einem Leben in Freiheit nahekommen.
Anke Stedingk
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Ihre dominante Stiefmutter hält derartige Vorstellungen für unrealistische Faselei. „Dein Problem ist, Kind, dass du in einer Märchenwelt lebst. Und glaubst das alles auch noch.“ Doch auch sie hat ambitionierte Zukunftsphantasien, auch wenn diese gänzlich anders aussehen. „Aber ich, ich gebe das Träumen nicht auf! Ich weiß, dass ein besseres Leben für euch möglich ist.“ In die Rolle der vom gesellschaftlichen Aufstieg träumenden Mom schlüpft zur Freude des Publikums Anke Stedingk, die bis 2015 die Kasseler Theaterbesucher und auch bei diesem Wiedersehen mit ihrer beeindruckenden Bühnenpräsenz und Spontanität begeistern konnte.
Jürgen Wink
Quelle: N.Klinger
Jürgen Wink, der jüngst vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst den verdienten Titel des Kammerschauspielers verliehen bekommen hat, verkörpert den lethargischen Dad, der sich beinahe während des gesamten Abends mit Kopfhörern auf den Ohren in seine Opernwelt flüchtet. Von Zukunftsträumen scheint er sich ebenso verabschiedet zu haben wie vom realen Leben. Seine Kleidung hätte Mom eine Warnung sein können. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Quelle: N.Klinger
In jedem Fall glänzt an diesem Abend das Schauspielensemble, das spürbar Spaß auf der Bühne hat und diesen auf das Publikum überträgt. Das Stück entlarvt auf amüsante Weise neben zugeschriebenen Geschlechterrollen zahlreiche weitere Klischees und nimmt diese ironisch aufs Korn. Angenehm ist, dass die Autorin keineswegs den vollendeten Lebensentwurf, der zwangsläufig zum persönlichen Glück und zur größtmöglichen Freiheit führt, hervorzaubert. Diverse Happy Ends sind denkbar.

„Prinz und Prinzessin waren so verliebt
Doch sie kamen nur zusammen
Wenn der Stiefvater schlief
Da waren zwei Menschen
Die trafen vier Menschen
Die trafen acht Menschen
Die trafen 16 Menschen
Trafen 32 Menschen
Und die hatten sich gerne
Und die bauten ne Leiter
Wollten bis zu den Sternen
Am Schluss waren's viel mehr als 100.000 Leut
Und wenn wir nicht gestorben sind
Leben'se noch heut“
(Rio Reiser, aus: Himmel und Erde)
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