Kultur
“OPERETTE“ (Witold Gombrowicz) am Staatstheater Kassel
Zerschundene Gesichter hinter Masken
(Quelle: N. Klinger)
GDN -
Mit einer opulenten und aufwendigen Inszenierung bringt das Staatstheater Kassel derzeit das selten gespielte Stück “Operette“ des polnischen Autors Witold Gombrowicz auf die Bühne. Die bildgewaltige und von einem überzeugenden Ensemble getragene Produktion bereitet viel Vergnügen.
“Harlekin ist in sein Festkleid geschlüpft
Und es glitzern die Flittern, wenn er tänzelt und hüpft,
(“¦) Und im Taumeln verliert er das Gleichgewicht
Und die Maske vor seinem zerschund“˜nen Gesicht.“
(Reinhard Mey)
Auf der Bühne des Staatstheaters Kassel sind sämtliche Elemente versammelt, die eine Operette benötigt: Aristokraten, ein General, Lakaien, opulente Kostüme, ein Schloss und ein pompöser Ball. Doch wie sich im Verlaufe des Abends zeigt, verbergen die Protagonisten, ähnlich dem Harlekin im Lied von Reinhard Mey, manch “zerschund`nes Gesicht“ hinter ihren üppigen Masken.
Und es glitzern die Flittern, wenn er tänzelt und hüpft,
(“¦) Und im Taumeln verliert er das Gleichgewicht
Und die Maske vor seinem zerschund“˜nen Gesicht.“
(Reinhard Mey)
Auf der Bühne des Staatstheaters Kassel sind sämtliche Elemente versammelt, die eine Operette benötigt: Aristokraten, ein General, Lakaien, opulente Kostüme, ein Schloss und ein pompöser Ball. Doch wie sich im Verlaufe des Abends zeigt, verbergen die Protagonisten, ähnlich dem Harlekin im Lied von Reinhard Mey, manch “zerschund`nes Gesicht“ hinter ihren üppigen Masken.
Im Mittelpunkt des höfischen Lebens stehen eine unschuldige Außenseiterin sowie ein einflussreicher Modeschöpfer. Albertinchen fordert mit ihrem Schrei nach Nacktheit ihre Umwelt heraus und konterkariert somit die Dienste des Designers Fior, der bislang am Hof den Ton angibt, indem er die neuesten Modetrends verkündet, die wiederum das gesellschaftliche Ansehen bestimmen.
Zu Beginn des Abends erleben die Zuschauer eine abgestumpfte aristokratische Gesellschaft, die sich singend, tanzend und trippelnd ausschließlich mit Oberflächlichkeiten wie Aussehen, Mode, der Auflistung ihrer erotischen Eroberungen und Selbstbespiegelung beschäftigt. Graf Charme, der nur noch mittels regelmäßig verabreichter Pillen und Spritzen in Bewegung gehalten wird, beabsichtigt das bürgerliche Albertinchen zu verführen.
Hierzu soll ein vom ihm engagierter "Spitzbube" das Objekt der Begierde bestehlen und ihn im Anschluss in die Rolle des Helden und Retters versetzen. Doch die Intrige schlägt fehl, denn das im Schlaf beraubte Mädchen scheint durch die Berührung des Diebes erotischen Visionen zu erliegen und verkündet den revolutionären Ausruf: "Nacktheit will ich!"
Dieses Verlangen nach Nacktheit und somit nach einer ungeschminkten Wahrheit wirkt auf ein Milieu, das sich ein Dasein ohne “Mode“, ohne Maskerade nicht vorstellen kann, äußerst irritierend, denn “was wäre, wenn entdeckt würde, dass unser Arsch sich gar nicht so sehr unterscheidet?“ Auch wenn diese Thematik an Selfie-Kult, Instagram, mit Photoshop geglättete Gesichter und gecastete Superstars denken lässt, ist das Werk bereits 1966 im Rahmen des Zeitgeistes von sexueller Befreiung und Ideologiekritik entstanden und greift der Studentenrevolte vor.
Witold Marian Gombrowicz (1904 -1969), einer der bedeutendsten polnischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, liebte die Form der Operette, denn “nirgends ist der Mensch, das eitle Vieh, so sehr bei sich wie in einer Operette“. Von Kritikern oftmals missverstanden stand Gombrowicz zeit seines Lebens jeder Art von Konvention oder gar Ideologie, Nationalismus oder Religion ablehnend gegenüber und postulierte das Recht des Menschen, sich durch lebenslange “Unreife“ sowie Individualität und geistige Freiheit gegen solch vereinnahmender Einflüsse zur Wehr zu setzen.
Entsprechend nimmt er sich bei dem Stück “Operette“ die Freiheit, die Form der klassischen Operette mit absurdem Theater zu verbinden und schafft ein gesellschaftskritisches, überdrehtes und surreales Bühnenwerk, bei dem die Operette, die beim Maskenball im zweiten Akt mit all ihrem Glanz heraufbeschworen werden soll, in ein Inferno mündet, als die von Modezar Fior ausstaffierten Figuren vom "Wind der Geschichte" durcheinandergewirbelt werden, neue Maskeraden zum Vorschein kommen und sich manch “zerschund“˜nes Gesicht“ offenbart.
Unabhängig von der Inszenierung ist es dem Staatstheater Kassel bereits hoch anzurechnen, dass es das selten gespielte - und für Regie, Schauspieler und Publikum herausfordernde - Stück auf den Spielplan gesetzt hat. Zudem wurde Philipp Rosendahl (*1990), der bereits mit bemerkenswerten Inszenierungen wie Bernsteins »West Side Story«, Herrndorfs “Tschick“, Jelineks “Die Schutzbefohlenen“, Schillers “Die Räuber“ oder Lindgrens “Ronja Räubertochter“ auf sich aufmerksam gemacht hat und seit 2016 Hausregisseur sowie Leiter des Jungen Staatstheaters am Staatstheater Kassel ist, mit der Regie betraut.
So wie der junge Regisseur am Studio Lev in Kassel 2017 mit “Hedwig and the angry Inch“ der Form des Musicals frischen Wind eingehaucht hat, befreit er nun auch die Operette am Staatstheater von Spießigkeit und bringt eine zeitgemäße, schrille und pompöse Inszenierung auf die Bühne, zu der Brigitte Schima großartige und entsprechend üppig-phantasievolle Kostüme entwickelt hat.
Autor Gombrowicz hat einen Text mit einer Vielzahl von Operetten-Zutaten hinterlassen, dem jedoch ein wesentliches Element dieser Kunstform fehlt: die Musik. Für die Kasseler Inszenierung hat der Musiker Thorsten Drücker diese treffend und präzise komponiert. Seine Songs pendeln zwischen Hip-Hop, Rap, Pop und Rock und erzeugen - abhängig vom Bühnengeschehen und den jeweils im Zentrum stehenden Figuren - eine opulente, hypnotische, erheiternde, wohlige, aufwühlende oder berauschende Wirkung, bilden jedoch bei aller Abwechslung eine stimmige Einheit.
Bei dem bis in die Nebenrollen ausnahmslos überzeugenden Ensemble verbietet es sich beinahe einzelne Schauspieler hervorzuheben, doch es bereitet eine besondere Freude, Caroline Dietrich als sich in coole Posen werfenden und rappenden Graf Charme zu erleben. Aber auch Konstantin Marsch als ihr kraftstrotzender Gegenpart Baron Firoulett überzeugt ebenso wie Hagen Bähr und Alexandra Lukas, die als Prinz und Prinzessin Himalaj marionettengleich und kaum noch selbstgesteuert durch ihren Hofstaat trippeln.
Gombrowicz zeichnete in seinen Texten - und dies gilt insbesondere für “Operette“ - oftmals groteske, irritierende Zustandsbilder einer verlogenen, widersinnigen und absurden Welt. Spätestens wenn sich die Operette im dritten Akt zu einer Apokalypse und das Schloss zu einer Ruine entwickeln, schwillt der Theaterabend mittels überbordender Regieideen zu einem berauschenden Erlebnis von Sinneseindrücken an.
Das Finale des Stückes bleibt Albertinchen vorbehalten, die zuvor gängige Muster hinterfragt hat und sich mit ihrer Forderung nach Nacktheit ihr Gegenüber als den puren Menschen ohne Funktionen und Schutzmechanismen ersehnt.
Die opulente und aufwendige Inszenierung hinterlässt nachhaltig Wirkung. Bilder und Klänge bleiben ebenso haften, wie manch kluger Gedanke von Gombrowicz und zudem - und nicht zuletzt - macht die Kasseler Produktion schlicht Spaß.
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