Kultur
“Anarchy of the Body“ am Staatstheater Kassel
“Es hat mit Loslassen zu tun“
(Quelle: N. Klinger)
GDN -
“Anarchy of the body“ lautet der Titel des aktuellen Tanzabends im Staatstheater Kassel. Mit einem Stück von Annamari Keskinen und Ryan Mason sowie einer Choreografie von Tanzdirektor Johannes Wieland spürt der Doppelabend dem Verhältnis von Bewusstsein und Körperlichkeit nach.
“Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht“, hat Johann Wolfgang von Goethe in dem Gedicht “Zahme Xenien“ geschrieben. Nur wer sich selbst in die Pflicht nimmt, ist demnach in der Lage, sein Schicksal selbst zu gestalten. Doch ist dieses überhaupt möglich? Gehorcht unser Körper stets unserem Geist oder kann dieser auch ein Eigenleben führen? Kann ein völliger Kontrollverlust, obwohl er für Menschen schwer auszuhalten ist, auch eine Befreiung sein?
Zu Beginn des ersten Stückes, “Re-Recreator“ von Johannes Wieland, ist die Bühne in dichten Nebel gehüllt. Nach und nach zeichnen sich die Silhouetten vereinzelter, auf den Bühnenboden blickender Figuren ab, die nichts miteinander zu verbinden scheint. Sie scheinen sich in einer Zwischenwelt zu befinden - nicht in der Realität, in keinem eindeutig zu verortenden Raum.
Die sphärischen Klänge von “Shine on you crazy diamond“ (Pink Floyd) ertönen - ein Song, der von dem geistigen Zerbrechen des einstigen Bandmitgliedes Syd Barret erzählt - einem Mann der sich aus der Realität, wie wir sie kennen und erleben, verabschiedet hat. Schließlich bewegt sich ein Tänzer (Shafiki Sseggayi), scheinbar ohne dass seine Bewegungen dem eigenen Willen folgen, in Richtung Bühnenrand.
Wie der Titel “Re-recreator“ andeutet, erlebt der Zuschauer in den kommenden ca. 50 Minuten ein stetig wiederkehrendes Kreieren, bei dem sich, entsprechend der variantenreichen Soundcollage (Donato Deliano), dynamische und verlangsamte Bewegungen bis hin zum Stillstand abwechseln. Dabei stellt sich dem Betrachter immer wieder die Frage: Wer oder was steuert diese Bewegungen? Findet der eigene Verstand hier seinen Ausdruck oder folgt der Körper seinen eigenen Gesetzen?
Mitunter erscheinen die TänzerInnen entrückt, als haben sie das “Hier“ verlassen, sich mit anderen Mächten und Kulten verbunden und blicken mit Augen “like black holes in the sky“, wie es in “Shine on you crazy diamond“ heißt. Haben sie die Kontrolle über ihr Sein verloren?
Mitunter erscheinen die TänzerInnen entrückt, als haben sie das “Hier“ verlassen, sich mit anderen Mächten und Kulten verbunden und blicken mit Augen “like black holes in the sky“, wie es in “Shine on you crazy diamond“ heißt. Haben sie die Kontrolle über ihr Sein verloren?
Durch das Stück zieht sich eine philosophische Diskussion, die wechselnd zwischen einzelnen Figuren ausgetragen wird. Bei deren Suche nach der Weltformel, die alles erklärt und zum umfassenden Verständnis der Welt führt, stößt das menschliche Bewusstsein spürbar an seine bisherigen Grenzen. Wie ein UFO oder eine ungreifbare Macht steigen große leuchtende Ventilatoren auf die Bühne hinab, die den undurchdringlichen Nebel vertreiben. Wird jetzt die Antwort auf die allumfassenden Fragen sichtbar?
“Es hat mit Loslassen zu tun“, beantwortet Cree Barnett Williams (die laut Programmheft “stille Siegerin“) vage am Ende des Stückes die eingangs und im Verlaufe der Choreografie aufgeworfenen Fragen, bevor sie die Bühne, den anfänglichen Zwischenraum, unumkehrbar verlässt. Wohin sie geht, bleibt offen. “Ich mache hier weiter und Du machst da weiter.“ Die Suche nach den endgültigen Antworten bleibt bestehen.
Die zweite Choreografie des Abends unter dem Titel “Ei“ stellt das gemeinsame Debüt der beiden Choreografen Annamari Keskinen und Ryan Mason dar. Das titelgebende Ei wird seit jeher, da aus seinem Inneren neues Leben erwächst, in zahlreichen Religionen und Mythen als Sinnbild der Schöpfung angesehen. Im Christentum entwickelte es sich zum Symbol für die Auferstehung Jesu Christi, während einem ostasiatischen Mythos zufolge aus ihm die Welt entstand, die sich in Himmel und Erde trennte, bevor aus ihren Meeresbewohnern und Wasserpflanzen die ersten Gottheiten erwuchsen.
Keskinen und Mason kreieren mit dem Kasseler Tanzensemble poetische Bilder, die nicht immer leicht zu deuten sind. Die fast leere Bühne stellt, ähnlich wie bei Wieland, wenn auch mit anderen Mitteln sowie einer gänzlich anderen Atmosphäre, einen Zwischenraum dar, in dem ein alternder Mann sitzt, der regungslos auf etwas zu warten scheint - möglicherweise auf den Sputnik, der über der Bühne schwebt oder die gelegentlich an den Bühnenrändern auftauchenden prächtig gekleideten Figuren, die einer fremden fernen Welt zu entstammen scheinen.
Was die Zuschauer in der folgenden Dreiviertelstunde erleben, erscheint wie ein surrealistischer Traum - doch ist es der eigene Traum oder jener des auf der Bühne sitzenden Mannes? Alles Geschehen wirkt zeitlos - Begebenheiten erfolgen beschleunigt, verlangsamt oder gar rückwärts. Die Körper folgen nicht den gewohnten Gesetzmäßigkeiten. Beine führen ein ruheloses Eigenleben, Menschen bewegen sich wie Marionetten - an den Fäden einer anderen Macht hängend, Körper werden von Lichtern magisch angezogen oder kommen trotz aller Anstrengung nicht vom Fleck.
Die TänzerInnen laufen ungreifbaren Zielen entgegen, scheinen gegen versteckte Kräfte anzukämpfen und wirken wie auf einer ständigen Suche. Sie agieren nur selten miteinander. Schreie bleiben tonlos. Echte Kommunikation, Kooperation und Nähe findet kaum statt. Die Figuren scheinen isoliert in ihrer eigenen Welt zu leben.
Die unwägbaren, häufig absurden Handlungen und Bewegungen erzeugen eine eigentümliche Spannung und tauchen die Zuschauer in eine Welt voller surrealer Sinneseindrücke.
Die unwägbaren, häufig absurden Handlungen und Bewegungen erzeugen eine eigentümliche Spannung und tauchen die Zuschauer in eine Welt voller surrealer Sinneseindrücke.
Der sich senkende Sputnik wird mit einem Solo von der großartigen Cree Barnett Williams, die zuvor das titelgebende Ei empfangen hat, willkommen geheißen. Die Britin, die seit der Spielzeit 2016/2017 festes Ensemblemitglied der Tanzcompagnie des Staatstheaters Kassel ist, zeigt über den gesamten Abend einen beeindruckenden Facettenreichtum und künstlerischen Ausdruck.
Schließlich verlässt der alternde Mann seinen Stuhl und macht sich auf den Weg. Ist sein Ziel der Sputnik (russisch für Weggefährte oder Begleiter), der bislang über ihn gewacht und die Szenerie beobachtet hat? Es erfolgt ein unvorhersehbares Ende - ein ästhetisches Schlussbild voller Anmut, Schönheit und universeller Versöhnlichkeit.
Es spricht für das Staatstheater Kassel, dass es Annamari Keskinen und Ryan Mason, die als aktive Tänzer und langjährige Publikumslieblinge an diesem Theater engagiert waren, ermöglicht, ihre erste gemeinsame Choreografie hier zu zeigen. Auch wenn sich ihr Ansatz stark von Johannes Wielands Herangehensweise unterscheidet, so haben sie doch gemeinsam, dass beide Choreografien starke, poetische Bilder erzeugen, die beim Zuschauer haften bleiben.
Wer bereit ist, die nötige Anarchie des Geistes zuzulassen, nicht fortwährend das Gesehene hinterfragt oder versucht ihm eine logische Struktur zu verleihen und ähnlich wie die Tänzer auf der Bühne gewillt ist, sich in Zwischenwelten zu bewegen, der erlebt in Kassel einen inspirierenden und ästhetisch ansprechenden Abend.
... es hat etwas mit Loslassen zu tun...
... es hat etwas mit Loslassen zu tun...
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.