Kultur
“Schöne Bescherungen“ am Staatstheater Kassel
Familiäres Chaos unterm Weihnachtsbaum
(Quelle: N. Klinger)
Das Fest der Liebe steht vor der Tür und zu den beschwingten Klängen von Mariah Careys “All I want for christmas“ stürmt die vielköpfige Familie lautstark das heimische Wohnzimmer. Während die dem Glamour bekanntermaßen nicht abgeneigte Soul-Diva wiederholt betont, außer Liebe keine Wünsche zum Fest zu haben und somit die Widersprüchlichkeit des kommerziellen Überflusses zum Weihnachtsfest thematisiert, blickt das Publikum auf einen überdimensionalen Weihnachtsbaum und in leuchtenden Farben verpackte und zu Türmen gestapelte Geschenke, die die Wände zu sprengen scheinen.
Alle Jahre wieder kommt die Familie mit den allerbesten Vorsätzen zusammen, um gemeinsam ein harmonisches Fest zu feiern. Alles scheint perfekt vorbereitet: Die Geschenke sind unter dem geschmückten Baum drapiert, Onkel Harvey hat es sich im Fernsehsessel gemütlich gemacht und während die Festtafel sorgfältig eingedeckt wird und der in der Küche brutzelnde Braten kurz vor der Vollendung steht, werden die ersten Drinks eingeschenkt. Aber statt der angestrebten Idylle kommen erste Wortgefechte auf. “Na, na, na“¦ so wollen wir Weihnachten aber nicht anfangen“¦“, warnt Eddie noch augenzwinkernd. Doch mit den Alkoholpegeln steigen zunehmend und unaufhaltsam auch die innerfamiliären Konfliktpotenziale.
Onkel Harvey hat als Weihnachtsüberraschung für die Kinder echte Waffen vorgesehen. Eddie ignoriert beharrlich seine schwangere Frau wie auch den gemeinsamen Nachwuchs, dessen Geschenke er bereits vor der Bescherung demoliert. Phyllis Bemühen, das Festmahl zu bereiten, endet in einem Fiasko, da sie für den zur Soßenherstellung vorgesehenen Wein eine unmittelbarere Verwendung findet, während ihr Mann sein traditionelles und von allen gefürchtetes Puppentheater vorbereitet und als Schriftsteller Clive auftaucht, spielen auch noch die Hormone der versammelten Damenwelt verrückt. Das Weihnachtschaos bricht aus und die Zuschauer verwundert es kaum noch, dass in dieser Familie das kaum bekannte Krankheitsbild der Weihnachtsmann-Phobie auftritt.
Der britische Autor Alan Ayckbourn hat in seiner Karriere etwa 80 Theaterstücke geschrieben und gilt als einer der erfolgreichsten Komödienerzähler Europas. Seine Stücke wurden in über 35 Sprachen übersetzt, weltweit aufgeführt, sind oftmals in der englischen oberen Mittelschicht verortet und decken zumeist menschliche Schwächen im Umgang miteinander auf. Dies trifft auch auf das Stück “Schöne Bescherungen“ zu, das - wenngleich es bereits 1980 Premiere feierte - bis heute regelmäßig zur Weihnachtszeit auf den Spielplänen europäischer Theater steht.
Der Kasseler Oberspielleiter Markus Dietz überträgt Ayckbourns Ensemblekomödie in seiner Inszenierung in die heutige Zeit, indem er auch dem Internet, Smartphones und den allgegenwärtigen Selfies Raum gibt. Mayke Hegger hat ein realistisch wirkendes Bühnenbild entworfen, das durch den überdimensionierten Weihnachtsbaum sowie die überbordenden Geschenketürme das Auseinanderdriften von vorweihnachtlicher Erwartung und familiärer wie persönlicher Realität versinnbildlicht.
Im hohen Tempo lässt Dietz die Protagonisten, die sich zusehends als Selbstdarsteller entlarven, die in ihrem eigenen, wohl eingerichteten Leben nicht wirklich zu Hause sind, aufeinanderprallen. “Eigentlich bin ich ganz anders“, beteuert Rachel mehrfach und könnte damit für die gesamte Familie sprechen. Bei aller Komik - und die steht unmissverständlich im Mittelpunkt des Abends - bleibt auch die Tragik der Figuren, die wie an verknoteten Fäden hängend, miteinander verwoben sind, nicht verborgen.
Bereits in den zurückliegenden Spielzeiten hat Markus Dietz unter Beweis gestellt, wie mustergültig er es versteht, temporeiche Komödien mit großem Ensemble auf die Bühne zu bringen (“Floh im Ohr“, “Der nackte Wahnsinn“). Wie in der Vergangenheit, so verlangt er auch in dieser Produktion den beteiligten Schauspielern einiges ab. Was diese in “Schöne Bescherungen“ leisten ist enorm und zeigt, dass sie ihr Handwerk verstehen.
Die Figuren haben recht viel Text, den sie in stetig wechselnden Konstellationen und oftmals kurzen Dialogen, die sich gelegentlich überschneiden oder gar aus einem Nebenraum ertönen, darbieten. Dieses erfordert ein präzis abgestimmtes Timing, einen wachen Geist und hohe Professionalität. All dies kann man dem gesamten Ensemble uneingeschränkt attestieren, wenngleich man annehmen darf, dass mit dem Ablegen des Drucks, der vor einer Premiere zweifellos herrscht und der zunehmenden Routine, die weiteren Vorstellungen noch virtuoser und müheloser wirken werden.
Meret Engelhard verkörpert Belinda, die zugleich unter- wie überforderte Hausherrin, die sich nicht nur unablässig um die Organisation des Familientreffens bemüht, sondern auch darum, sich einzureden, dass sie und ihr Mann Neville einander noch immer lieben. Ihre Sehnsüchte verbirgt sie hinter Ersatzhandlungen. “Immer räumt sie irgendetwas auf“, beklagt sich ihr genervter Ehemann Neville (Hagen Bähr), der es vorzieht, sich in seiner Garage mit technischen Herausforderungen (“Ich brauche eine Challenge!“) von zweifelhaftem Nutzen zu beschäftigen, als sich mit den Versäumnissen in seiner Ehe auseinanderzusetzen.
Lukas Umlauft verkörpert den jungen Schriftsteller Clive, der als Gast zu der Familienfeier stößt, die Frauenherzen höher schlagen lässt, doch aufgrund seiner Inkonsequenz mit der Situation völlig überfordert ist. Belindas Schwester Rachel hat ihn eingeladen. Rahel Weiss, die für ihr komisches Talent mittlerweile in Kassel bekannt ist, bietet eine furiose Darstellung einer Frau, die sich unter Tränen allmählich ihrer Sehnsüchte nach Liebe und Nähe bewusst wird.
Der erfolglose und faule Eddie - Aljoscha Langel gibt ihn überzeugend und mit hervorragendem Timing - versucht vergeblich erwachsen zu werden und ignoriert hartnäckig seine schwangere Frau Pattie (Michaela Klamminger), die ihr viertes Kind, das keiner der beiden will, erwartet und bemüht ist, ihre Familie zusammenzuhalten sowie das Weihnachtsfest gelingen zu lassen - notfalls indem sie ihre Kinder streng anweist: “Wir sind jetzt fröhlich und singen ein Lied!“
Diese kommen im Verlauf der Weihnachtstage traditionell in den zweifelhaften Genuss von Onkel Bernards furchtbarem Puppenspiel. Konstantin Marsch stellt die Figur als einen gutmütigen Versager dar und erntet viel Applaus und Lacher, als er im zweiten Teil des Abends mit der Generalprobe für seine Aufführung grandios scheitert. Seine Frau Phyllis (Henrike Hahn) ist eine unglückliche Alkoholikerin, die wiederholt derart konfus auf die Bühne wankt, dass man sie unwillkürlich auffangen möchte.
Harvey (Uwe Steinbruch) ist der Gegenpart zum gutmütigen Bernard. Der einstige Security-Mann mit faschistoiden Tendenzen warnt inständig vor unheilvollen Zeiten, ohne zu realisieren, dass er selbst diese heraufbeschwört - eine Figur, die knapp 40 Jahre nach Entstehung des Stückes, eine interessante Aktualität erhält, erinnert sie doch wiederholt an heutige sogenannte “Wut-Bürger“.
Die gut zweistündige Inszenierung bietet, mit gewissen Längen insbesondere im zweiten Teil, einen amüsanten Abend, der auf allzu bissigen Humor verzichtet sowie ein hervorragend aufgelegtes Ensemble. Karten für weitere Vorstellung sind erhältlich unter 0561 1094-222 sowie auf der Homepage www.staatstheater-kassel.de
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.